Ich sehe was,
was du nicht siehst...

Freundlicher Mann mit rotem Hemd stützt sich auf Rad
© Rob Hopkins

Stell dir vor… Als Kinder haben wir uns ständig Schönes ausgemalt, bei Erwachsenen verschlechtert sich die Vorstellungskraft hingegen zusehends. Das will Rob Hopkins ändern. Im Interview erzählt uns der Gründer der weltweiten Transition Town Bewegung, warum unser Überleben davon abhängen könnte, was wir uns vorstellen und gibt Tipps, wie unsere Vorstellungen zukunftsfitter werden.


Wie steht es momentan um unsere Vorstellungskraft?

Rob Hopkins: Studien haben gezeigt, dass unsere Vorstellungskraft und unser kreatives Denken seit den 90er Jahren stetig abnehmen. Gründe dafür gibt es viele.

Zum Beispiel unser gegenwärtiges Bildungssystem. In Großbritannien leiden teilweise schon Vierjährige unter Leistungsdruck. Kunst, kreatives Schreiben, Theater und kritisches Denken gehen im System unter. Um Vorstellungskraft zu entwickeln, brauchen Kinder genug Zeit und Raum zum freien Spielen. Aber auch Erwachsene sollten das Spielen nicht verlernen.

Zusätzlich reduzieren die Medien unsere Vorstellungkraft. Sie zeigen nur eine ganz bestimmte Spielart des Weltgeschehens, wodurch andere Möglichkeiten verschlossen bleiben.

Ungerechtigkeit ist ein weiterer Grund. Dadurch entsteht Stress, Angst und Einsamkeit. Man kann schwer ein vorstellungsreiches Leben führen, wenn Grundbedürfnisse nicht erfüllt sind, oder mit Rassismus und Armut konfrontiert ist.

Wie können wir dem begegnen? Wie hältst du deine Vorstellungskraft fit?

Rob Hopkins: Indem ich Zeit in der Natur verbringe oder lese. Ich bin gerne künstlerisch tätig und nehme mir Zeit, um zu zeichnen. Durch die Transition Town Bewegung erreichen mich enorm viele inspirierende Erfolgsgeschichten aus aller Welt. Sie energetisieren mich und meine Arbeit. Vor allem die Arbeit junger, farbiger Aktivist*innen inspiriert mich momentan sehr.

Mit Teilnehmer*innen von Imaginations-Workshops machen wir außerdem viele Spiele. Wir improvisieren, schaffen Räume für ungezwungenes, kreatives Blödeln. Wir gehen in den Wald und versuchen ihn wieder mit Kinderaugen zu sehen.

Befeuert die Natur unsere Vorstellungskraft ganz besonders?

Rob Hopkins: Wir leben in einer Zeit, in der die Vielfalt der Natur um uns herum stark abnimmt. Wodurch auch unsere Vorstellungskraft weiter abzunehmen droht. Der Mikro-Biologe René Dubois formuliert es so: „Würden wir auf dem Mond leben, wäre unsere Vorstellungskraft so öde wie der Mond“. Wir sollten erkennen, dass eine hohe Artenvielfalt uns auch wieder zu mehr Vorstellungskraft verhelfen kann.

Kann verlorene Vorstellungskraft wiedergewonnen werden?

Rob Hopkins: Wenn Menschen unter einem Mangel an Vorstellungskraft leiden, ist ein Hirnareal (Hippocampus) nachweislich geschrumpft. Ich habe nach Beispielen gesucht, die genau das wieder umkehren. Und bin z.B. auf die Initiative „Art Angel“ gestoßen. Aus psychisch kranken Menschen werden dort Künstler*innen. Die Initiative wird ausschließlich von Menschen geleitet, die selbst psychische Probleme hinter sich haben. Sie wissen, wie es sich anfühlt, wenn man die Kraft verliert, selbst Entscheidungen zu treffen. Für Neuankömmlinge bei „Art Angels“ ist es eine gewaltige Aufgabe zwischen einem roten und einem grünen Stift zu entscheiden.

Eine Künstlerin erzählte mir, dass sie kurz davorstand sich das Leben zu nehmen, obwohl sie einen tollen Partner und zwei Kinder hat, die sie liebt. Wenn der Hippocampus schrumpft, verliert man die Fähigkeit sich eine positive Zukunft vorzustellen. Aber Kunst kann Menschen wie sie in die Welt zurückholen.

In der Fotografen-Gruppe war ein sehr zerbrechlicher junger Mann. Er fotografierte dies uns das, z.B. ein Bonbon-Papier in einem Laubhaufen oder Regentropfen an einer Scheibe. Es war wunderschön zu beobachten, wie er durch die Fotografie im Kleinen die Welt wiederentdeckte.

Ein anderer Mann hatte einen schweren Burn-Out erlitten und sein Selbstbewusstsein nahezu vollständig verloren. Auf die Frage, ob er sich jetzt als Künstler betrachte, sagt er: „Ja, warum nicht?“ Die Leute fangen an, sich vorzustellen, wer sie noch sein könnten. In einer Atmosphäre von Sicherheit und Hoffnung. Das ist sehr kraftvoll.

Welche Verbindung gibt es zwischen Entschleunigung und Vorstellungskraft?

Rob Hopkins: Vorstellungskraft braucht Raum und Zeit, das ist Mangelware. Daher war es faszinierend die 4 bis 5 Wochen nach dem ersten Lockdown zu beobachten. Manche Menschen schrieben den Roman, den sie schon immer schreiben wollten, buchten Mal-Kurse online, setzten Gartenprojekte um oder studierten Familien-Tanz-Choreographien ein.

Man bekam eine leise Vorahnung davon, was entstehen könnte, wenn wir so etwas noch mehr verfolgen könnten. Egal ob 4-Tage Woche oder bedingungsloses Grundeinkommen: irgendwie müssen wir damit anfangen, uns wieder mehr Freiraum zu verschaffen.

Das wäre sehr transformativ und würde unsere kollektive Vorstellungskraft wieder in Schwung bringen. Ich halte das für essentiell für unser Überleben. Wir können nicht schaffen, was wir uns nicht vorstellen können.


„Stelle Dir vor Vincent van Gogh hätte ein Smartphone besessen, ständig Timelines gecheckt und Videos von stürzenden Skateboardern angeklickt. Hätte er die Möglichkeit gehabt, diese Sonnenblumen wirklich zu sehen? Ihre Formen, Farben, das Lichtspiel einzutauchen?“ (Auszug aus Rob Hopkins Buch „Stell Dir vor…“)

Es hat sicher auch einiges an Vorstellungskraft gebraucht, um die Transition Town Bewegung ins Leben zu rufen?

Rob Hopkins: Vor allem Vertrauen ist essentiell. Man entlässt eine Idee in die Welt und schaut was damit passiert. Es scheint wie Mykorrhiza von Pilzen zu funktionieren. Manchmal trägt es dort Früchte, wo du es erwartet hast. Und manchmal sprießt ein Pilz, wo man ihn überhaupt nicht vermutet hätte. Mittlerweile gibt es in über 50 Ländern der Welt eine Transition Town Bewegung.

Letzte Woche war ich in Belgien. Dort hat die Transition Town Gruppe eine lokale Währung geschaffen. Zu Beginn des ersten Lockdowns hat die Stadt für 4 Mio. Euro in diese Währung investiert und auf alle Bürger*innen verteilt. Damit sie das Geld wieder in die lokale Wirtschaft stecken konnten. Das finde ich phänomenal.

In der belgischen Stadt Liege bringt ein Transition Town Projekt regionale Lebensmittel-Produzent*innen so erfolgreich zusammen, dass bereits eine Reihe von Läden eröffnet werden konnte. Die Idee hat ein Eigenleben entwickelt und wurde in 6 oder 7 anderen Städten übernommen.

Gibt es so etwas wie einen Lieblingsmoment in der Zukunft, auf den du dich freust?

Rob Hopkins: Genau zu dieser Frage haben wir ein kurzes Video gedreht (Link). Für mich ist die Zukunft kein fantastisches Utopia. Sondern eine Zusammenstellung aus Szenen, die ich schon gesehen habe. In der Schweiz war ich schon einmal in einem 4-stöckigen Gebäude aus Strohballen, mit Lehmputz, Komposttoiletten und PV-Anlagen. Das ist keine Fantasie, das existiert bereits. Ebenso gibt es bereits fußgänger-optimierte Stadtteile, urbane Landwirtschafts-Projekte, soziale Unternehmen etc. Die Zukunft, die ich mir vorstelle, verbindet diese Fragmente miteinander.

Einen Lieblingsmoment habe ich in einem ehemaligen Supermarkt in Rotterdam erlebt: er war zu einer Art Marktplatz mit zig kleinen Lebensmittel-Geschäften, Lokalen, einer Brauerei etc. umgebaut worden. Die Leute trafen und unterhielten sich, es roch umwerfend, es wurde Musik gemacht etc. Ein wundervoller, lebendiger Ort, der mir gezeigt hat, dass die Zukunft noch vielfältiger, köstlicher, interessanter und sozialer werden kann.

Gibt es noch etwas, das du gerne mit unseren Leser*innen teilen möchtest?

Rob Hopkins: Unlängst habe ich eine außergewöhnliche Geschichte gelesen von einem surrealistischen Dichter, der das KZ überlebte. Seine Gruppe wurde von Wachen aufgescheucht, um in einen LKW verladen zu werden. Alle wussten, was das zu bedeuten hatte. Als sie vor dem LKW Schlange standen, begann er einem nach dem anderen aus der Hand zu lesen. Er las Dinge wie: „Du hast eine starke Lebenslinie. Du wirst viele Kinder haben.“ An einem Platz wo es überhaupt keine Hoffnung gab, hat er begonnen, von einer möglichen Zukunft zu reden. Nach einigen Minuten konnten es die Wachen nicht mehr aushalten und brachten sie alle zurück. Ich finde das ist eine wunderschöne Geschichte. Sie zeigt, dass auch in den finstersten Zeiten Raum für Vorstellungskraft bleibt. Und für Hoffnung.

Mit meinem Buch wollte ich vor allem auf eines aufmerksam machen: Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere kollektive Vorstellungskraft sich erschöpft und schwindet!

Denn das passiert gerade. Und niemand beachtet das. Wodurch wir empfänglich für Diktatoren, Faschisten und Kollaps-Menschen werden, welche die Zukunft als schrecklichen Ort hinstellen.

Wir haben keine „I have a dream“-Politiker*innen mehr. Niemand spricht über große Zukunftsvisionen. Das ist wirklich gefährlich. Wenn wir unsere Vorstellungskraft verlieren, sind wir in Schwierigkeiten. Wenn wir sie aber zurückgewinnen, gibt es keine Grenzen für das, was wir gemeinsam erreichen können.

Trainings-Tipps für mehr Vorstellungskraft von Rob Hopkins:

  • Egal wie alt Sie sind: spielen Sie wieder mehr.
  • Nehmen Sie sich bewusst Zeit für Kreativität, Kunst und Musik.
  • Lesen Sie Bücher. Schenken Sie Facebook weniger Zeit und Romanen mehr Zeit.
  • Verbringen Sie weniger Zeit mit Ihrem Handy und überlegen Sie, wie Sie grundsätzlich mit hochgradig süchtig-machenden Technologien umgehen wollen.
  • Sammeln Sie inspirierende Geschichten. Sie helfen dabei, sich vorzustellen, wie eine bessere Zukunft aussehen könnte.
  • Wenn Ihre Vorstellungskraft ins Stocken gerät: gehen Sie spazieren, machen Sie eine Radtour. Schauen Sie sich Baumkronen von unten an, die Formen, die Farben, das Licht. Das macht enorm viel mit unserer Vorstellungskraft.
Rob Hopkins
Rob Hopkins

Rob Hopkins ist Begründer der mittlerweile weltweit verbreiteten Transition-Town-Bewegung. In seinen Vorträgen, Workshops, Büchern und Podcasts widmet er sich facetten- und äußerst einfallsreich ganz dem Thema Vorstellungskraft. Seine Heimatstadt, das britische Totness, hat nicht zuletzt durch seinen Tatendrang einiges an positiven Transformationen hinter sich.

 

 

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