Leben wir in einer Lebensmittel-Wegwerf-Kultur der besonderen Art? Wir bitten die Expertin für Abfallwirtschaft, Gudrun Obersteiner, um einen Blick hinter die Kulissen der Forschung zum Thema Lebensmittelverschwendung.
Jeder Österreicher wirft pro Jahr 19 kg Lebensmittel in den Müll. Früher war das Verschwenden von Lebensmitteln ein gesellschaftliches Tabu. Ist es heute ‚salonfähig‘ geworden Lebensmittel wegzuwerfen?
Ich glaube nicht, dass es salonfähig geworden ist. Ich glaube es wird kaum jemand auf die Frage „Werfen Sie Lebensmittel weg?“ mit „ja“ antworten. Es ist ein Unachtsam sein. Den Menschen fällt es einfach gar nicht auf. Das ist auch das Problem. Es ist schwierig zu kommunizieren, dass etwas falsch läuft, wenn die Menschen gar nicht merken, dass sie etwas falsch machen. Oft hören wir: „Wenn das Brot schimmlig wird, muss man es ja wegwerfen.“ Aber es ist einfach nicht die Erkenntnis da, dass man das Brot essen sollte, bevor es schimmlig wird bzw. man so wenig Brot kauft, dass es nicht schimmlig wird.
In vielen Bereichen der Wertschöpfungskette ist das Thema überhaupt nicht präsent. In der Gastronomie wurde bei einzelnen Extremfällen, an den Tagen, wo wir sie besucht haben, 50% des Essens, dass sie an die Gäste herausgegeben haben, weggeschmissen. Der Kunde zahlt das. Insofern fällt das auch nicht auf.
Ist die Verschwendung von Lebensmitteln tendenziell ein Luxusproblem reicher Länder?
Ja und nein. Die WHO hat vor vielen Jahren eine Studie dazu gemacht, die zeigt, dass global betrachtet unterschiedliche Lebensmittel weggeschmissen werden: in Europa sind es mehr Molkereiprodukte, in Asien eher Fisch, Obst und Gemüse, im südlichen Afrika vermehrt Wurzeln und Knollen. In den Ländern südlich der Sahara wird schon weniger, aber immer noch viel weggeworfen.
Der große Unterschied ist, dass in Ländern, wo es den Menschen nicht so gut geht, Lebensmittelabfälle auf dem Weg bis zum Handel anfallen. Bei uns hingegen fallen grob die Hälfte der Lebensmittelabfälle beim Konsumenten an.
Werfen bei uns reichere Menschen mehr Lebensmittel weg als ärmere Menschen?
In Österreich kommen Studien diesbezüglich zu unterschiedlichen Ergebnissen. Unsere Erfahrungen deuten eher darauf hin, dass kein Unterschied zwischen Ärmeren und Reicheren zu erkennen ist. Unterschiede gibt es aber sehr wohl bei den Lebensmitteln, die weggeworfen werden.
Das Wegwerfverhalten hängt nicht unbedingt mit dem Bildungsniveau zusammen. Es wird durch viele Dinge überlagert. Menschen der höheren Bildungsschichten oder wohlhabende Menschen haben oft einen Lebenswandel, der es mit sich bringt, dass sie Lebensmittel guten Willens einkaufen, um sie in der nächsten Woche zu verkochen. Aber dann geht man spontan mit dem Einen essen, trifft sich mit dem Anderen, und inzwischen vergammeln die Dinge im Kühlschrank. Auch gebildete Menschen glauben nicht die Zeit zu haben, um sich um ihre Lebensmittel zu kümmern. Es ist ein Zeitproblem oder ein Problem des Überblicks etc. Das Problembewusstsein ist daher durch alle Schichten nicht da.
Denken Sie, es würde weniger Lebensmittelabfälle geben, wenn es einen stärkeren Bezug und mehr Nähe zwischen Konsument, Produzent und den Produkten gäbe?
Das große Problem ist die fehlende Wertschätzung. Die wächst natürlich, wenn man den Hintergrund weiß. Wenn man weiß, wie groß der Aufwand ist, bis man so ein Produkt ernten kann. Aber die Nähe zum Herstellungsprozess reicht nicht.
Auch Menschen, die gärtnern, wissen zwar, was sie tun müssen, damit ein Radieschen wächst, sind aber dann überfordert, wenn alles gleichzeitig reif wird. Das hat viel mit verlorenem Wissen zu tun. Heutzutage wissen die Menschen nicht mehr, wie man Produkte haltbar machen kann. Wie man sie verarbeiten kann.
Sehr viele Menschen kochen gar nicht mehr oder nur Fertigprodukte. Nur eine Minderheit ist noch in der Lage, so wie die Oma zu kochen. Wenn man nach Rezepten der vielen, neuen Kochbücher kocht, weiß man oft nicht, was man mit den Resten tut. Braucht man für ein Rezept 100g Sauerrahm, bleiben die restlichen 150g Sauerrahm im Kühlschrank stehen und werden weggeworfen.
Und dann gibt es natürlich noch das Problem mit dem Preis. Solange ich das Huhn so billig kaufen kann wie einen Bleistift, denke ich nicht darüber nach, ob ich es verwerte oder wegwerfe.
Wie könnte der „Rattenschwanz“, den Lebensmittelabfälle nach sich ziehen (z.B. Flächen- und Energieverbrauch, Kosten etc.), für Konsumenten sichtbarer werden?
Das ist sehr schwer. Versucht wird dies zum Beispiel durch Information auf den Produkten oder im Supermarkt. Wir haben in einer Studie gesehen, dass sich die Menschen zwar Informationen zum Produkt auf dem Produkt oder beim Supermarkt wünschen. Auf der anderen Seite, nehmen sie diese aber nicht wirklich wahr und befolgen sie nicht.
Ich denke in Sachen Bewusstseinsbildung sind wir daher vor allem wieder in den Schulen. Die Kinder in der Schule müssen durchgängig begreifen, worum es dabei geht. Das ist nicht eine Einheit, sondern das muss ein Gegenstand sein. Das ist für mich die einzige Möglichkeit, wie ich das wieder vermitteln kann. Viele Eltern können es nicht mehr vermitteln. Es ist nicht mehr da. Früher hat jeder irgendwo einen Bauern in der Familie gehabt. Das gibt es nicht mehr. Es gibt ja tatsächlich die Kinder, die nicht wissen, dass die Milch aus der Kuh kommt und das Schnitzel vom Schwein. Wenn man Volksschulkindern eine Sellerieknolle zeigt, wissen sie nicht, was das ist. Wie sollen sie sich im späteren Leben Gedanken darüber machen, was man damit kochen kann, und dass man sie nicht wegwirft? Da fehlt eine Komponente.
Wer ist primär in der Verantwortung Lebensmittelabfälle zu vermeiden? Konsument, Lebensmittelhandel, Gastronomie oder Politik?
Uneingeschränkt: alle. Das ist ein Thema, bei dem sich niemand ausnehmen darf. Jeder als Person, jeder in seiner Funktion. Sei es als Koch, Servierpersonal, Handelsvorstandsvorsitzender, Logistiker etc. Wir müssen das gesamthaft und branchenübergreifend angehen. Da helfen auch Ausreden nicht wie „Es ist der Konsument, der das verlangt“ oder „Es ist der Handel, der uns die Produkte nicht abnimmt“ oder „Das Wetter macht uns die Ernte kaputt und daher müssen wir zu viel produzieren“. Es muss jeder sein Bestes geben. Alle entlang der gesamten Wertschöpfungskette.
Können Sie blitzlichtartig einige innovative Ansätze nennen, die Schritte aufzeigen, um Lebensmittelverschwendung einzudämmen?
Was mir besonders gut gefällt sind all jene Ansätze, um aktuell reife Produkte, die aus unterschiedlichen Gründen nicht zum Konsumenten oder in den Handel gelangen (zu klein, zu groß, zu krumm etc.) direkt in die Gastronomie zu bringen. Wodurch sich der kluge Gastronom aus voll reifen österreichischen Tomaten die Sauce vorkochen kann für das nächste halbe Jahr. Dadurch entsteht ein regionaler Mehrwert, und das gefällt mir sehr gut. Und der Gastronomie ist es völlig egal, wenn Kartoffeln zu groß sind, die freuen sich über große Kartoffeln.
In der Gastronomie gibt es auch innovative Konzepte, die Lebensmittelabfälle automatisch abwiegen und über Bilderkennung für den Gastronomen auswerten. So etwas zu sehen wirkt.
Mengenmäßig kann man mit Projekten viel erreichen, wo es um Lebensmittelspenden geht. Wir hatten ein größeres internationales Projekt, wo z.B. die Tafeln in Polen die Möglichkeit erhalten haben, auch gekühlte Produkte zu übernehmen. Das explodiert dann wirklich recht schnell.
Das finde ich auch wichtig zu betonen. Es gibt einen großen Bedarf für Lebensmittelspenden oder Sozialmärkte. Der österreichische Handel macht hier auch schon viel. Damit kann man sicher viel erreichen.
Im Kreis gedacht – sollten wir auch Nutztiere wieder stärker mitdenken, wenn es um die Verwertung von Lebensmittelabfällen geht?
Natürlich. Man muss sich halt die Rahmenbedingungen überlegen. In der EU werden aktuell viele Projekte gefördert, die sich mit genau diesem Thema beschäftigen. Wie man quasi hier wieder einen Schritt zurück rudern kann. Es ist ja noch nicht so lange her, dass wir diese extrem scharfen Hygienevorschriften haben, die das alles verbieten. Man muss sich überlegen, wie man das leistbar umsetzen kann und wie vegetarische Tiere keine fleischliche Kost bekommen, dass es keinen Kannibalismus gibt, wo Hühner Hühnerfleisch bekommen etc. Da passiert viel und ich glaube, dass wir da in naher Zukunft schon wieder etwas in den Kreislauf einbringen können.
Welche Bilder erscheinen vor Ihrem inneren Auge, wenn Sie sich vorstellen, wie wir als Gesellschaft in Zukunft mit Lebensmittelabfällen umgehen könnten?
Die einzige Vision, die bei mir auftaucht, ist, dass wir diese Lebensmittel essen müssen, bevor sie zu Abfall werden. Sonst wird es sich auf lange Sicht nicht ausgehen. Es werden wildeste Konzepte überlegt, wie in der Stadt auf Etagen unter künstlichem Licht Gemüse wachsen kann. Wenn wir das alles essen würden, was wir jetzt schon produzieren, könnten wir uns Einiges von diesen ausgeklügelten Lösungen sparen.
Was unternehmen Sie persönlich, um in Ihrem Alltag Lebensmittelabfälle zu vermeiden?
Ich versuche verstärkt wirklich kreativ zu kochen. Zu schauen, was habe ich noch, was gehört weg. Und was kann ich daraus machen, damit es die Familie trotzdem noch isst. Ich gehe dem entsprechend auch viel bewusster einkaufen. Seit ich mich intensiver mit der Thematik befasse, friere ich Lebensmittel viel früher ein, z.B. Essensreste. Obst, das schnell schrumpelig wird wie Erdbeeren, wird dann mit etwas Zucker und dem Pürierstab zerstampft und kann dann noch einige Tage mit Joghurt gegessen werden.
Wichtig ist auch das Wissen über die richtige Lagerung. Alles was in den Kühlschrank passt, sollte in den Kühlschrank. Da gibt es immer wieder die Diskussion, dass Leute sagen: „Der Apfel verliert dort aber an Geschmack“. Aber wo war denn der Apfel, bevor er in den Handel kam von Oktober bis April? Er war super gekühlt. Er kann also nicht mehr an Geschmack verlieren. Eine neue Studie aus Deutschland hat jetzt auch bestätigt, dass Tomaten ihren Geschmack durch Kühlung nicht verlieren.
Haben Sie darüber hinaus noch mehr Tipps für unsere Leser, um Lebensmittelabfälle zu vermeiden?
Man kann zum Beispiel auch mal eine schrumpelige Gurke im Geschäft mitnehmen. Genauso Produkte, die verbilligt sind, weil sie bald ablaufen. Und vielleicht nicht immer das hinterste Joghurt herausnehmen, dass noch drei Monate hält, sondern das vordere, das „nur“ noch zwei Wochen hält.
Man kann auch Lebensmittel vor dem Urlaub an Freunde oder Arbeitskollegen verteilen. Gemüse, das zu viel ist, z.B. die erwähnten Radieschen, kann man super zu Pickles einlegen, es genügt ein bisschen Essig und fertig. Bevor Obst schlecht wird, kann es mit Zucker püriert und noch einige Tage im Kühlschrank haltbar gemacht werden. Diese Dinge sind keine große Kunst.
Über Gudrun Obersteiner
Gudrun Obersteiner studierte Landschaftsökologie und Landschaftsgestaltung an der Universität für Bodenkultur, Wien sowie das Aufbaustudium Technischer Umweltschutz gemeinsam an der BOKU und der TU Wien.
Nach fast 10jähriger Tätigkeit im Bereich Gewässerökologie/Hydrobiologie wechselte sie in den Bereich Abfallwirtschaft und startete im Jahr 2000 am Institut für Abfallwirtschaft der Universität für Bodenkultur, Wien als wissenschaftliche Assistentin und ist seit 2012 stellvertretender Institutsvorstand.
In ihrer aktuellen Forschungstätigkeit beschäftigt sie sich vor allem mit Abfallvermeidung (Fokus Lebensmittelabfallvermeidung) sowie Nachhaltigkeitsbewertung in der Abfallwirtschaft. Gudrun Obersteiner leitet mehrere nationale und internationale Forschungsprojekte, unter anderem zum Thema Lebensmittelabfallvermeidung.
Eine Liste zu Materialien (z.B. Tatort-Biotonne Workshops) und mehr finden Sie hier