Corona geht uns auf die Nerven. Im wahrsten Sinne. Die Medien reden über nichts anderes mehr. Die wochenlange Ausgangssperre tut das Übrige dazu. All unsere Gedanken drehen sich um diese eine Krise.
In den Augen des deutschen Soziologen Harald Welzer könnte diese Krise aber auch „zu einer echten Lerngeschichte“ für uns werden. Kardinal Schönborn geht noch einen Schritt weiter und hofft gar: „Diese Krise wird zu einer großen Besinnung führen“ – sein Wort in Gottes Ohr.
Erleben worauf es ankommt
Besinnen wir uns also. In den vergangenen Wochen wurden wir mit einer Flut von Katastrophenmeldungen konfrontiert. Um jetzt unter der Bürde des eingeschränkten Alltags nicht zu verzweifeln oder den Kopf in den Sand zu stecken, braucht es ein Gegengewicht zu den Bildern und Zahlen des Schreckens (→ siehe Impuls der Journalistin Susanne Wolf).
Zum Beispiel könnten wir uns zur Abwechslung einmal jene Zukunftsbilder ausmalen, die wir für wirklich erstrebenswert erachten. Bilder von der Welt, die wir wirklich wollen.
Auf jeden Fall wird uns durch Corona bewusst, worauf es wirklich ankommt: Nähe zu den Menschen, die wir lieben. Ein angenehmes, warmes Zuhause. Gutes, gesundes Essen. Muße und Kreativität. Bewegung in der Natur. Gut auf unseren Körper zu schauen. Und ohne Zweifel auch eine sinnvolle Beschäftigung, für die wir auch Wertschätzung und Erfüllung abseits des Lohnzettels ernten.
Zeit um Altlasten loszuwerden
Womöglich sagen wir jetzt entschlossen ‚auf Nimmerwiedersehen‘ zu den schon vor der Corona-Krise welken Blüten des Überkonsums, den überbordend vollen Kleiderschränken, geplanter Obsoleszenz, Lebensmittelabfällen und Plastikbergen. Und kaufen das, was wir wirklich brauchen, nicht länger bei Amazon, sondern lokal. Dank der von der Aktivistin und Publizistin Nunu Kaller gegründeten Online-Plattform ist das auch in Zeiten von Corona leicht möglich.
Nach der Krise wird ohne Zweifel ein wirtschaftlicher Wiederaufbau notwendig sein. Vielleicht wagen wir das Gedankenexperiment und streichen die Gewinnmaximierung und grenzenloses Wachstum (das ohnehin unmöglich ist auf einem begrenzten Planeten) einmal gedanklich von unserer Liste. Und fügen stattdessen Widerstandsfähigkeit, Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft, Versorgungssicherheit und kurze Transportwege hinzu.
Dass es dabei nicht um Utopien, sondern um konkrete Vorschläge geht, zeigt beispielsweise die von Christian Felber begründete Gemeinwohlökonomie. Hier stehen nicht kurzfristige Profite, sondern Gemeinwohl, Kooperation und Gemeinwesen im Vordergrund des Wirtschaftens. Gebaut wird dabei auf ein menschenwürdiges Wertegebäude der Solidarität, der ökologischen Nachhaltigkeit, der sozialen Gerechtigkeit und demokratischen Mitbestimmung. Über 2000 Vorreiter-Unternehmen haben diesen Ansatz bereits für ihr Unternehmen entdeckt und umgesetzt (z.B. Sparda Bank München, der Sportartikelproduzent VAUDE, Schachinger Logistik, die Lebenshilfe Tirol oder die Fachhochschule Burgenland).
Was darf Neues entstehen?
Diese Krise könnte ein Wendepunkt sein. Einerseits für die viel beschworene Energiewende. Mit allem, was dazu gehört: erneuerbarer und krisenfester Energie, die dort produziert wird, wo sie gebraucht wird. Der Journalist und Vordenker Franz Alt bezeichnet die Energiewende zudem als ‘Jobknüller‘ – und was könnten wir nach einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise wohl besser brauchen?
Aber auch in anderen Bereichen tun sich Felder auf. Zum Beispiel die Felder, die dieses Jahr von Erntehelfer-NeueinsteigerInnen abgeerntet werden. Lassen wir uns nach der Krise wieder auf solche Abhängigkeiten ein? Womöglich kuriert uns die Krise in vielerlei Hinsicht, ist zugleich Geburtsstunde für zig neue Obst- und Gemüsebetriebe in Österreich.
Womöglich werden ab jetzt auch lebensfeindliche, kurzgeschorene Roboter-Rasen wieder in blühende, vielfältige Bio-Hausgärten umgewandelt. Vielleicht lernen wir auch wieder unser Saatgut selbst zu vermehren und feiern Pflanzen- und Samentauschfeste? Vielleicht sind die „Gärten des Grauens“ damit bald Geschichte.
Womöglich beginnen wir jetzt auch damit, die einst florierende, österreichische Textilindustrie wie Schneewittchen wieder wach zu küssen. Geblendet von ‚Fast Fashion‘ haben wir diese dem Gebot des günstigsten Preises geopfert. Jetzt wachgeküsst, könnte sie uns im Gegenzug schon bald mit lange haltbaren, top designten Jeans und T-Shirts aus heimischen Naturfasern versorgen. Bis dahin würde uns unser Kleiderschrank ohnehin noch ein Weilchen gut versorgen.
Ohne Frage braucht es einen gewaltigen Zusammenhalt in der Gesellschaft, um diese Krise zu meistern. Und wir können jetzt schon stolz auf uns sein. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte ist uns das Wohl einer überschaubar großen Gruppe unserer Gesellschaft (der Risikogruppe) wichtiger als ALLES andere. Diese neue Priorität, die Schwachen zu schützen, Menschenleben an die oberste Stelle zu setzen – das ist zivilisatorisches Neuland für uns. Oder „ein historischer Fortschritt“, wie es Harald Welzer bezeichnet.
Trotzdem hat sich die Corona-Krise irgendwie auf der ohnehin langen To Do List der menschlichen Zivilisation eingeschlichen, und sollte uns nicht vergessen lassen, dass noch etliche wirklich große Brocken anstehen (Klimakrise, Artensterben…). Die derzeitige Entschlossenheit macht aber Mut, dass wir auch diese Krisen mit dem gleichen Eifer anpacken könnten. Denn eines haben all diese ‚Krisen‘ gemeinsam: sie geben uns die Chance, die Notbremse zu ziehen und dabei über uns hinaus zu wachsen. Und wir wissen jetzt: gemeinsam schaffen wir das.
Über die Autorin
Dr. Sybille Chiari ist Teil des Redaktionsteams von „Nachhaltigkeit. Neu denken“ und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Themen Nachhaltigkeits- und Klimakommunikation – forschend und schreibend. Sie ist Teil der Bewegung Scientists for Future und Obfrau des Vereins Bele Co-Housing (Gemeinschaftswohnprojekt mit biologischer, regenerativer Landwirtschaft www.belehof.at).