Vorstellungskraft:
3 Minuten Workout

Grenzenlos verfügbar. Uneingeschränkt einsetzbar. Vollkommen gratis. Und wir machen so wenig Gebrauch davon. Das Potential unserer Vorstellungskraft liegt oft brach.

Betäubt von digitalen Ablenkungen, Bequemlichkeit oder gesellschaftlichen Zwängen, lassen wir dem fantasielosen Alltagstrott seinen (scheinbar) alternativlosen Lauf. Wir grüßen jeden Tag das Murmeltier und reproduzieren ‚more of the same‘.

Wenn wir wirklich grundlegend etwas ändern wollen, braucht es knackfrische, mutige Vorstellungen und Ideen, eine großzügige Weite im Denken. Es braucht die Fähigkeit, uns noch bessere Lösungen sekundenschnell und detailscharf in Bildern herzuholen. Kurzum: einen bestens trainierten Vorstellungs-Muskel. Und damit uns das leichter fällt, gibt es jetzt ein Training dazu in 5 Schritten.


1. Trainingsort wählen

Machen wir uns das Training leicht und starten auf unserem persönlichen Ground Zero. Wir wählen als Trainingsort einen inspirationslosen Ort unserer Wahl. Laut, lärmend, unsympathisch oder einfach nur gähnend öde. Einer von diesen Orten, wo man nur schnell wieder weg will und sich nie freiwillig länger aufhalten würde. Oft herrscht als Draufgabe an solchen Ort das, was der Künstler Joseph Beuys „soziale Kälte“ nennt. Nicht selten, haben diese Orte viel mit Beton, Asphalt und Verkehr zu tun. Menschen, die man hier trifft, sehen müde und gestresst aus.

2. Die neue Bestimmung

Vielen Orten könnte bald ihre eigentliche Funktion abhandenkommen. Wenn wir beginnen etwas weniger unterwegs zu sein – durch Innovationen wie der 30h-Stunden Woche, Homeoffice, Telekonferenzen etc. – und unserem Überkonsum das „Über“ abzwicken, entstehen neue Freiräume. Nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich: zum Beispiel in Form von nicht mehr benötigten Park-, Verkehrs- oder Geschäftsflächen.

An vielen Orten dürfen wir in Zukunft also über ein „Danach“ nachdenken. Was wird aus Parkplätzen und Tiefgaragen in Städten, wenn diese autofrei werden? Oder aus Tankstellen? Ganz abgesehen von Raffinerien, Flugplätzen oder den großen Mega-Handelshäfen dieser Welt?

Stell dir jetzt konkret vor, was dein gewählter Trainingsort sonst noch sein könnte. Was würde hier Mensch und Umwelt wirklich gut tun? Welche Lücke, welchen Bedarf könnte dieser Platz füllen? Was würde Kindern ein Lächeln ins Gesicht zaubern oder ihren Entdeckergeist wecken? Was könnte Alt und Jung magnetisch anziehen? Worüber würde sich die Natur hier freuen?

3. Mehr Lebendigkeit

Als Gesellschaft haben wir viel von unserem Wissen um Lebendigkeit eingebüßt. Wer kann schon beurteilen, ob ein Stück Wald, durch das man schlendert, gesund ist? Geschweige denn der Boden, auf dem man steht? Wer weiß, wie eine wirklich artenreiche Wiese aussieht? Oder welche Früchte von Sträuchern und Bäumen unseren Vögeln schmecken?

Aber wir müssen keine studierten Biolog*innen sein, um uns eine lebendigere Welt vorzustellen. Das Finetuning überlassen wir den Expert*innen. Wir sollten nur wieder lernen, Lebendigkeit als Grundprinzip immer und überall mitzudenken.

Wodurch könnte dein Trainingsort wieder zu einem Lebensraum werden? Wo könnten sich hier Tiere oder Pflanzen wohlfühlen? Was braucht es dazu? Mehr Bäume? Begrünte Fassaden? Einen Teich? Inspirationsfutter dazu bietet u.a. die Initiative Grün statt Grau.

4. Alle Sinne mitnehmen

Wir haben jetzt also ein Gefühl davon, was der Trainingsort in Zukunft erfüllen könnte (z.B. sozialer Treffpunkt, Markplatz, blühende Ruhe-Oase,…was auch immer) und was ihn ‚lebendiger‘ macht. Gehen wir jetzt mit all unseren Sinnen an diesen Ort. Gehe alle Sinne durch und überlege was noch fehlt. Riecht der Ort schon so, wie er riechen könnte? Sieht er so aus, wie du es möchtest? Wenn du deine Ohren spitzt, was kannst du hören? Gehen dir irgendwelche Geräusche ab? Zwitschern genug Vögel? Wäre es nett, wenn auch noch Grillen zirpen würden? Wo hätte die Blumenwiese Platz, die diesen Wunsch erfüllt? Wie greift sich die Umgebung an? Welches Material siehst du? Setzt man sich hier gerne zum Verweilen hin? Und was musst du dir noch vorstellen, damit dir all Ihre Sinne ein OK geben?

5. Das i-Tüpfelchen

Wenn du denkst dein Ort wäre jetzt schon perfekt, versichere ich dir: es geht noch mehr. Mit diesem letzten Schritt, wollen wir unsere Vorstellungskraft so richtig ins Maximal-Kraft-Training stürzen:

Du stehst in 5 Jahren am Rand deines Trainingsorts. Ich stelle mich neben dich. Wir lassen unsere Blicke über das Geschehen gleiten, nehmen die Farben, Formen, Eindrücke wahr. Und dann stelle ich dir eine letzte tollkühne Frage: Was wäre, wenn wirklich ALLES möglich wäre?

Angenommen du könntest die Weltpolitik, unsere Gesetze, die gewohnten sozialen Normen, das Hier und Heute ausklammern. Schlummert in deinem Kopf nicht doch noch vielleicht eine Idee, die du kaum vorzustellen wagst? Die du als unmöglich, utopisch oder verrückt abtust, aber insgeheim doch unglaublich faszinierend findest? Baue genau diese Idee, dieses letzte i-Tüpfelchen noch in deinen imaginären Trainingsort ein.


Erwünschte Nebenwirkungen

Jetzt wäre es natürlich schön, dass Synapsen-Feuerwerk zu beobachten, das dieses Workout im Gehirn ausgelöst hat. Zum Glück kann unser Hippothalamus keinen Muskelkater bekommen. Aber ein bisschen ausgepowert ist er hoffentlich. Und womöglich ein bisschen gewachsen.

Suche dir immer wieder neue Trainingsorte: egal ob Gewerbegebiete, Bahnhöfe, ausgestorbene Stadtzentren, Industrieruinen. Es gibt kaum Ecken, die in Zukunft nicht schöner, ruhiger, blühender, lebendiger, einladender etc. sein könnten.

Das regelmäßige Workout birgt weder Risiken noch Nebenwirkungen. Und in der Gruppe macht es noch mehr Spaß (auch das wurde im Selbstversuch natürlich getestet). Bei regelmäßiger Anwendung entfaltet dieser Versuch womöglich hocherwünschte gesellschaftliche Folgewirkungen.

Wer Visionen hat…

Womöglich schaffen wir es sogar alte Mantras der Visionslosigkeit, wie das ewig-aufgewärmte Zitat des ehemaligen deutschen Kanzlers, „wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, durch etwas Konstruktiveres und Zukunftsfähigeres zu ersetzen. Zum Beispiel dadurch: „Visionen sind der Stoff, aus dem Zukunft entsteht“. Oder in Worte von Rob Hopkins gegossen:

Vorstellungskraft ist essentiell für unser Überleben. Wir können nicht schaffen, was wir uns nicht vorstellen können.

(Rob Hokins)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert