In unserer pandemiegebeutelten Gesellschaft brennt eine Frage zentral unter den Nägeln: Wann bekommen wir unsere Freiheit zurück? Nehmen wir unsere Erfahrung mit ‚Unfreiheit‘ zum Anlass, um noch einen Schritt weiter zu denken: welche Freiheit bekommen wir zurück?
Halten die Freiheiten, nach denen wir uns jetzt am allermeisten sehnen, auch den Krisen stand, die bereits lautstark im Wartezimmer randalieren (Klimakrise und Artensterben)? Müssen wir uns sogar entscheiden: Freiheit ODER Nachhaltigkeit?
„Kommt man an einen Punkt, an dem man sich entscheiden muss zwischen Freiheit und Nachhaltigkeit, hätte ich immer die Tendenz, im Zweifel für die Freiheit zu sein.“ meint Nachhaltigkeitsexperte und Ökonom Fred Luks im Interview. „Wissend, dass die Freiheit herzlich wenig wert sein wird, wenn wir die Nachhaltigkeitstransformation nicht schaffen.“ In seinem jüngst erschienenen Buch „Hoffnung“ klammert er deshalb auch Wunder nicht aus der Rechnung aus, die wir mit unserer Zukunft machen. Die Schlagkraft der ‚Fridays for Future‘ Bewegung käme beispielsweise einem solchen Wunder gleich. Für 2021 prognostiziert er: es könnte das Jahr der Nachhaltigkeit werden.
Was uns winkt? Freiheit, mit Leitplanken
Endet unsere Freiheit dort, wo sie unsere Zukunft in die Ecke drängt? So mancher Gewohnheit, die heute unseren Alltag prägt, wird die Zukunftsfähigkeit abgesprochen. Weil sie maximal für einen kleinen (reichen) Teil der Menschheit taugt.
Und uns abgesehen davon jetzt schon stattliche Überziehungszinsen eingebrockt hat. Wir verbrauchen 60% mehr Ressourcen, als uns jährlich zur Verfügung stünden. Allein die Vorstellung, dass bevölkerungsreiche Länder wie China oder Indien Lust bekommen, die Freiheit unseres Überkonsums zu imitieren, lässt uns mit den Knien schlottern. Um in Bälde acht Milliarden Menschen ein nachhaltiges, gutes und freies Leben auf diesem Planeten zu ermöglichen, braucht es wohl eine Extraportion Kreativität.
Und Menschen, die in der Lage sind, Gegenentwürfen zum bisherigen „Normal“ den Weg zu ebnen. Zum Beispiel Johan Rockström, der als Klimawissenschaftler Leitplanken für den Planeten entworfen hat. Pragmatische Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Und praktischerweise gleich auch die dazu passenden Rezepte in seinem neuen Kochbuch mitliefert.
Oder die britische Ökonomin Kate Raworth. Sie nimmt diese Leitplanken als sportliche Herausforderung an. Und legt mit ihrer „Donut-Ökonomie“ einen daran angepassten „Wirtschaft-neu-denken“-Bausatz aufs Tableau. Welcher z.B. in Amsterdam beim wirtschaftlichen Wiederaufbau nach Corona zum Einsatz kommt. Mehr zu den neuen „Rahmenbedingungen“ lesen Sie hier.
Der größte Deal der Menschheitsgeschichte?
Vielen dämmert, dass wir an einem Wendepunkt stehen. Und tatsächlich könnte sich 2021 ein historischer, ja womöglich der größte „Deal“ der Menschheitsgeschichte anbahnen. Der „Global Deal for Nature“. Man darf also gespannt sein, auf den diesjährigen UN Biodiversitätsgipfel der Vereinten Nationen in Kunming.
Der ‚Deal‘ wäre, dass in den nächsten neun Jahren die Hälfte unseres Planeten unter Schutz gestellt bzw. als Klimastabilisationszonen ausgewiesen würde. Im Beitrag „Die halbe Erde unter Schutz?“ durchleuchten wir Ideen, die diesen „Deal“ von wissenschaftlicher Seite inspiriert haben: das „Half Earth“ Projekt und das „Globale Sicherheitsnetz“.
Wildnis als Lebensversicherung unserer Zivilisation
Christine Sonvilla hat keine Angst vor Freiheitsverlusten, wenn wir der Natur (wieder) mehr Wildnis gönnen. Die Biologin und Autorin des Buches ‚Das wilde Herz Europas‘, bringt es im Interview so auf den Punkt: „Wildnis ist unsere Lebensversicherung“. Unsere Zivilisation könne nur Bestand haben, wenn auch Wildnis Bestand hat. Was nicht ‚Rückkehr in die Steinzeit‘ bedeute. Vielmehr geht es darum, Wildnis und Zivilisation besser miteinander zu verschränken. Ihr Motto für unsere wilde Zukunft: „Je wilder wir selbst wieder im Herzen werden, desto eher können wir das Wilde, Ungeplante auch im Außen akzeptieren.“
Welche Freiheit bringt unsere Zukunft?
Es wird vermutlich noch eine ganze Weile dauern, bis wir die Nachwehen der COVID19-Pandemie abgeschüttelt haben werden. Wann sich unser Leben im herkömmlichen Sinn wieder frei anfühlen wird? Steht in den Sternen.
Für die Nachhaltigkeitstransformation scheint jedenfalls eines relativ klar zu sein: mit Verzichtsappellen wird man in nächster Zeit keinen Hund hinterm Ofen hervorlocken können.
Um dennoch alte, nicht zukunftsfähige Muster so schnell wie möglich, und idealerweise gleich mit der Pandemie, hinter uns lassen zu können, braucht es also vor allem eines: Appetizer. Ganz konkrete Vorstellungen dazu, welche neuen Freiheiten winken.
Als probate Belohnung dafür, dass wir bereit sind zukunftsschädliche Gewohnheiten unserer fossilen Wohlstandsgesellschaft auszumisten. Wir haben uns im Beitrag „Neue Freiheiten, auf die wir uns freuen dürfen“ für Sie auf die Suche, was ein gutes, erfülltes Leben in Zukunft bereichern könnte – und sind fündig geworden.
Und bis es soweit ist? Schüren wir nachhaltige Fantasien. Denn schon Astrid Lindgren wusste: „Alles, was an Großem in der Welt geschah, vollzog sich zuerst in der Phantasie des Menschen.“
Falls unser Schwerpunkt Ihren Lesehunger entfacht hat, lesen Sie in diesen Büchern gerne weiter:
- „Hoffnung“ Fred Luks
- „Das wilde Herz Europas“ Christine Sonvilla
- „Eat good – Das Kochbuch, das die Welt verändert“ Johan Rockström
- „Die Donut-Ökonomie“ Kate Raworth
Über die Autorin
Dr. Sybille Chiari ist Expertin für Nachhaltigkeit und Klimawandel. In der Werner Lampert GmbH ist sie mit den Themen Nachhaltigkeits- und Klimakommunikation betraut und Teil Redaktionsteam des Online-Magazins „Nachhaltigkeit. Neu denken.“ Zuvor koordinierte Sie mehrere internationale Forschungsprojekte in diesem Themenbereich. Sie ist Teil der Bewegung Scientists for Future und privat Obfrau des Vereins Bele Co-Housing, der ein klimafreundliches Gemeinschaftswohnprojekt mit biologischer, regenerativer Landwirtschaft in Oberösterreich betreibt (www.belehof.at).