Der Mensch ist ein Erfolgskonzept. Ausgehend von ein paar wenigen Menschenaffen in Afrika, hat er die ganze Welt erobert. Es gibt kaum noch Flecken auf dieser Welt, wo er nicht schon war, wo er nicht einen Weg gefunden hat zu überleben und leben. Gleichzeitig hat er viele Tiere und Pflanzen verdrängt, die Wildnis in ein Korsett gezwungen und menschliche Strukturen errichtet. Wir sprechen heute mit der Biologin Christine Sonvilla, die die echte Wildnis noch kennt und dem Thema gemeinsam mit Marc Graf ein ganzes Buch widmet.
Christine Sonvilla, Sie sind seit vielen Jahren Biologin und Naturfotografin und waren schon an den entlegensten Flecken dieses Planeten. Was bedeutet Wildnis für Sie?
Wildnis bedeutet für mich ein Stück Natur, das sich weitgehend selbst überlassen ist. Das ist dort, wo Bäume ihre „Hiebreife“ überdauern und alt werden dürfen, wo Totholz nicht als Bedrohung für die Forstwirtschaft angesehen wird, wo Flüsse ungehindert ihre Mäander in die Landschaft setzen, Schotterbänke aufschichten und wieder versetzen dürfen, wo Berge nicht bis in die hintersten Winkel vom Skitourismus erschlossen, sondern den Gämsen, Steinböcken, Edelweiß & Co. überlassen werden.
Gibt es echte Wildnis noch? Wo auf der Welt sind die größten wilden Lebensräume?
Die meiste Wildnis auf der Erde findet sich heute dort, wo der Mensch bisher kaum vorgedrungen ist, einfach weil die Landschaft zu karg, zu kalt, zu unwirtlich oder zu heiß, zu gefährlich, zu unwegsam ist. Das trifft beispielsweise auf weite Strecken Kanadas, Skandinaviens und die Arktis zu, auf die tropischen Regenwälder im Amazonas, Äquatorialafrikas oder Südostasiens. Und selbst dort, wie wir wissen, dringt der Mensch immer tiefer vor, rodet uralte Wälder, die – in Menschengenerationen gerechnet – unwiederbringlich verloren gehen oder reißt Tundraböden auf, um auch das letzte Erdöl noch aus unserem Planeten herauszuquetschen. Die Wildnis bzw. das, was von ihr noch übrig ist, schrumpft rapide.
Wie sieht es in Europa aus, findet man hier noch echte Wildnis?
Mit Blick auf Europa, insbesondere Mitteleuropa, würden viele wohl behaupten, dass es so etwas wie „echte Wildnis“ gar nicht mehr gibt. Das mag größtenteils stimmen, aber wer genauer hinschaut, entdeckt selbst im dicht besiedelten Mitteleuropa noch kleine, wilde Flecken, wie etwa den Rothwald im Wildnisgebiet Dürrenstein, den letzten großen Urwaldrest im Alpenbogen oder das Wildnisgebiet Sulzbachtäler im Nationalpark Hohe Tauern. Die letzten wirklich ausgedehnten Urwälder, die uns am nächsten liegen, finden sich in Rumänien, sind aber aktuell massiv von illegalen Rodungen bedroht.
Im Alpenraum schlummert das meiste Wildnispotenzial in den Bergen, vor allem dort, wo Täler wieder „verwildern“, weil die Bevölkerung in die Städte gezogen ist. Das ist keine ursprüngliche Wildnis, aber das sind Gebiete, die zumindest die Chance bergen, wieder wilder zu werden.
In Ihrem Buch „Das wilde Herz Europas“ haben Sie die letzten Ecken besucht, die noch richtige Wildnis sind, aber auch Lebensräume, die das Potenzial haben wieder wilder, also durch sogenanntes „Rewilding“ zu Wildnis zu werden. Was kann man sich unter „Rewilding“ vorstellen?
„Rewilding“ bedeutet so viel wie „wieder wilder machen“ bzw. ist es vergleichbar mit dem im Deutschen gebräuchlichen Wort „renaturieren“, es geht aber letztlich darüber hinaus. Bis 2010 gab es dieses Wort, das von der Organisation Rewilding Europe geformt wurde, in Europa nicht einmal. Rewilding hat zum Ziel, Wildnis und Wildnis-assoziierte Prozesse wiederherzustellen. Dafür werden von Menschenseite Initialzündungen gesetzt, wie zum Beispiel das Schaffen von natürlichen Überschwemmungsgebieten rund um Flüsse oder das Wiederaussetzen von Pflanzenfressern wie etwa grasende Rinder und Pferde. Dann zieht sich der Mensch aber weitgehend zurück und lässt die Natur sich möglichst selbstständig weiterentwickeln. Das ist ein großer Unterschied zu den bislang üblichen Naturschutzpraktiken in Europa, die vor allem einen „bewahrenden“ Fokus hatten, sprich das Erhalten eines Status quo in den Vordergrund stellten. Rewilding setzt Impulse, lässt dann aber den Dingen ihren Lauf und entspricht insofern mehr der Idee des Prozessschutzes, wie er in Wildnisschutzgebieten praktiziert wird.
In unserem aktuellen Schwerpunkt diskutieren wir, wie Freiheit und Nachhaltigkeit unter einen Hut zu bringen sind. Ist unser heutiges Leben mit mehr Wildnis zu vereinbaren? Oder würde ein mehr an Wildnis unsere Freiheit einschränken?
Ein Mehr an Wildnis ist nicht gleichzusetzen mit einem Weniger an Freiheit. Viele Menschen glauben, dass sie nicht mehr in den Wald gehen können, wenn einmal der Wolf oder ein Bär dort zu Hause ist. Ich bewege mich seit vielen Jahren in Gebieten, in denen auch große Beutegreifer bzw. Raubtiere leben, und das sogar in großen Dichten. In Gefahr war ich aber noch nie, aus einem einfachen Grund: Ich bin mir der Anwesenheit dieser Tiere bewusst und verhalte mich entsprechend. Ich vermeide es, mich einfach blindlings durchs Dickicht zu schlagen, wo eventuell ein Bär seinen Lagerplatz haben könnte. Ein großes Raubtier aufzuschrecken, ist nie günstig, weil man nicht weiß, wie das Tier in dieser Stresssituation reagiert. Abgesehen von potenziellen direkten Begegnungen mit „wilden Elementen“ ist es wichtig zu erwähnen, dass große Raubtiere, die verstärkt nach Europa zurückkommen, unsere Ökosysteme massiv beeinflussen, und zwar im positiven Sinn. Bären beispielsweise agieren als „Gärtner“, und pflanzen die Büsche und Bäume von morgen. Wölfe kontrollieren Pflanzenfresser-Bestände, um nur zwei Aspekte zu erwähnen. Und letztlich, wenn wir Menschen ein wenig kreativer werden, können wir sogar wirtschaftlich von ihrer Anwesenheit profitieren. Ökotourismus mit Tierbeobachtungen oder Wanderungen auf den Spuren großer Raubtiere können u. a. vor allem für wirtschaftlich schwache Regionen wesentliche Impulse setzen. Das schränkt unsere Freiheiten nicht ein, sondern gibt uns neue Möglichkeiten. Großraubtiere und das mit ihnen zurückkehrende Potenzial auf ein Mehr an Wildnis sind nicht unsere Feinde, sie sind unsere Chance!
Was fühlen Sie, wenn Sie in der Wildnis sind? Ist sie nicht der Inbegriff von Freiheit?
Auf den ersten Blick ist Wildnis vielleicht der Inbegriff von Freiheit, aber ich sehe das mittlerweile differenzierter. Ich selbst bin gern in unberührten, wilden Gebieten, weil sie der Seele guttun, weil sie uns spüren lassen, dass auch wir aus diesem „wilden Urtopf“ hervorgegangen sind und weil sie von zentraler Bedeutung für die Gesundheit unseres Planeten sind. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass ich – im Gegensatz zu den steinzeitlichen Jägern und Sammlern – heute so gut wie keine Chance mehr hätte, allein auf mich gestellt in echter Wildnis zu überleben. Ich sehne mich auch keineswegs danach zurück, in einer Höhle zu leben und meine steifen Glieder an einem mühsam entfachten Lagerfeuer zu wärmen. Ich bin in der Tat sehr dankbar für die zivilisatorischen Errungenschaften, die es uns ermöglichen, in einem gewärmten Raum zu sitzen, unterschiedlicher kreativer Arbeit nachzugehen und ein potenziell hohes Alter zu erreichen. Aber: Wir können den Weg der Zivilisation nicht weiterhin durch gedankenlosen Raubbau an der Natur beschreiten. Wir können nicht ewig weiter wachsen, weder was die menschliche Population noch die Wirtschaft anbelangt. Aus dem einfachen Grund, weil wir unsere eigene Lebensgrundlage vernichten und die von unzähligen anderen Arten gleich mit. Wenn wir überleben und auch gut leben wollen, dann muss die Wildnis zu einem gewissen Grad neben der Zivilisation bestehen bleiben bzw. wieder mehr werden!
Was fasziniert Sie an Wildnis am meisten? Welches ist ihr europäisches Lieblingstier?
Mich fasziniert an der Wildnis das Unvorhersehbare, das Unkontrollierbare. Das Leben ist ja genauso unvorhersehbar, auch wenn wir uns gerne auf jede nur erdenkliche Weise „versichern“, unsere Abläufe „planen und kontrollieren wollen“. Je wilder wir selbst wieder im Herzen werden, desto eher können wir das Wilde, Ungeplante auch im Außen akzeptieren.
Meine europäischen Lieblingstiere verändern sich ständig. Es ist meist das Tier, mit dem ich mich gerade intensiv beschäftige. Aktuell arbeite ich an einem Sachbuch über die Europäische Wildkatze und bin ganz fasziniert von diesem aparten, geheimnisvollen Wesen. Gleichzeitig gelang es mir, gemeinsam mit meinem Partner Marc, im turbulenten 2020er Jahr erstmals Wölfe zu Gesicht zu bekommen und zu fotografieren. Das hat mich tief beeindruckt. Der Luchs ist genauso spannend und der Bär ist und bleibt einfach der „Coolste“. Da ich mich so intensiv mit großen Raubtieren in den vergangenen Jahren beschäftigt habe, sind sie bei mir am präsentesten, gleichzeitig faszinieren mich aber auch jene Tiere, die von den meisten gar nicht gemocht oder übersehen werden. Die Erdkröte ist eine meiner Favoritinnen.
Der Tierfilmer Craig Foster schildert in seinem Film „The octopus teacher“ das Gefühl nicht länger Besucher der Natur zu sein, sondern Teil des Geschehens, Teil der Natur zu werden. Können sie dieses Gefühl nachempfinden? Halten Sie es für wichtig, dass wir Menschen wieder lernen, uns als Teil der Natur zu verstehen?
Ich kann das nachempfinden und glaube, dass es absolut essenziell ist, dass wir uns wieder als Teil der Natur verstehen. Ich glaube aber nicht, dass jeder von uns dafür in die entlegensten, wildesten Gebiete aufbrechen muss (geschweige denn das möchte), auch ein naturnaher Wald oder der Bach hinterm Haus können uns dieses Gefühl vermitteln. Entscheidend ist, dass wir Momente finden, in denen wir in der Natur zur Ruhe kommen, um Wald, Wiese, Berg und Fluss und all die Tiere darin nicht mehr nur als nette Kulisse zu empfinden, sondern als Verlängerung von uns selbst. Das ist die Grundlage, damit der Schutz der Natur und ihrer vielfältigen Tier- und Pflanzenarten zu unser aller Anliegen wird, und zwar nicht nur in der entfernten Arktis oder im Regenwald, sondern hier bei uns, vor unserer Haustüre, in unserer Mitte. Und das Gute: Es gibt Konzepte, Mittel und Wege, wie wir Menschen unseren Lebensunterhalt statt mit Naturzerstörung auch mit Naturerhalt verdienen können.
Warum ist es in Ihren Augen so wichtig Wildnis zu bewahren?
Wildnis ist unsere Lebensversicherung. Wir können in Menschengenerationen gerechnet keinen abgeholzten Urwald zurückbringen, keiner Torfschicht beim Wachsen zusehen, keinen abgesprengten Berg reanimieren. Erich Weigand, ein auf Biodiversität spezialisierter Wissenschaftler, der im österreichischen Nationalpark Kalkalpen forscht, formulierte es einmal so: „Wo soll denn die Artenvielfalt herkommen, wenn nicht aus der Wildnis.“ Besser kann man es nicht sagen. Wir müssen die Wildnis bewahren, die noch da ist – da darf es keinen Verhandlungsspielraum geben – und wir müssen jene Lebensräume, die noch weitgehend naturbelassen sind, als Anwärter für die Wildnis von morgen – für die Zeit, wenn wir längst nicht mehr sind, aber vielleicht unsere fernen Nachkommen – mehr werden lassen. Aber das schaffen wir nur dann, wenn wir erkennen, dass das Leben kein Bereicherungsmarathon mit den Disziplinen „Höher“, „Schneller“ und „Weiter“ ist, sondern eine faszinierende Reise, die wir in unserem kurzen Erdendasein mitgestalten können: destruktiv oder konstruktiv. Ich für meinen Teil finde zweitere Variante verlockender.
Und zuletzt, was können wir tun, um die letzten wilden Ecken Europas zu erhalten?
Wir könnten uns an folgendem Credo orientieren: Dort eingreifen, wo man der Artenvielfalt auf die Sprünge helfen kann, helfen muss (ein korsettierter Fluss wird von selbst nicht zum Mäandrieren beginnen) und ansonsten mehr Nichtstun praktizieren, sprich der Natur sukzessive mehr Freiräume zuzugestehen. Stück für Stück.
Demnächst: Das wilde Herz Europas
Wildnis und Mitteleuropa, das hat kaum jemand auf der Rechnung. Christine Sonvilla und Marc Graf gehen in diesem eindrucksvollen Bildband auf fotografische Spurensuche nach dem Wildnispotenzial unserer Breiten. Sie entdecken „richtige“ Wälder, fühlen den letzten ungezähmten Flüssen auf den Zahn und entlarven, wie wild die Bergwelt tatsächlich ist. In bislang ungesehenen Aufnahmen dokumentieren die beiden Fotografen die Rückkehr der drei großen Raubtiere, Wolf, Bär und Luchs. Gemeinsam mit zahlreichen Experten beleuchten sie das Spannungsfeld zwischen Naturschutz und wirtschaftlichen Interessen. Sie berichten von ihren persönlichen Abenteuern und Erfahrungen, zeigen Wege des Miteinanders auf und stellen fest, dass das wilde Herz Europas noch immer schlägt.
Das Buch erschien am 24. Februar 2021.
Demnächst: Europas kleine Tiger
Die europäische Wildkatze breitet sich aus, auch wenn die meisten Menschen noch niemals diesem scheuen Tier begegnet sind. Denn mit den heimischen Stubentigern haben echte Wildkatzen nichts zu tun. Von den schottischen Highlands bis zum Schwarzen Meer streifen sie durch die Lande, werden von den einen geliebt, von den anderen ignoriert. Forscher wenden gefinkelte CSI Methoden an, um mehr über ihr geheimnisvolles Leben zu erfahren, das offenbar nicht ganz so einzelgängerisch und waldfixiert ist, wie lange angenommen. Christine Sonvilla begibt sich auf die Spuren der aparten Tiere und gewährt uns Einblick in das versteckte Leben von Europas kleinen Tigern.
Das Buch erschien am 04. Mai 2021.
Über Christine Sonvilla
Nach Studien der Germanistik und Biologie machte sich Christine Sonvilla als Fotografin, Filmerin und Autorin mit Fokus auf Natur- und Artenschutzthemen selbstständig. In den letzten Jahren beschäftigte sie sich vor allem mit den großen Raubtieren Mitteleuropas, Bär, Luchs und Wolf. Für jene zu sprechen, die es selber nicht können, das ist ihr ein Anliegen. Ihre Arbeiten wurden mehrfach international ausgezeichnet und erschienen u. a. im National Geographic Magazin.