Kürzlich schrieb mir meine Tochter eine Textnachricht: “Heute ist es draußen fast ein bisschen frühlingshaft”.
Daran stellte ich fest, dass der Winter begonnen hatte. Der Frühling war wieder da, nämlich als Erwartung. Jetzt ist das letzte Licht aus den Bäumen vertropft, das Orange der späten Kirschen, das Gelb der Birken. Die Landschaft gewöhnt sich an Schwarzweiß, an die leeren Äcker, über denen klamm und grau der Winter liegt.
Das ist nicht nur bei mir der Moment, an dem sich erste Frühlingssehnsucht regt.
Und was ist der Gegenstand dieser Sehnsucht?
Das Aufblühen natürlich, nicht nur das eigene, in wieder wärmerer Luft, sondern das der “Natur”, der Anemonen und Veilchen, die Wegesränder mit ihren Blüten und dem Summen der Insekten. Schmetterlinge gar! Die Frühlingssehnsucht ist eine Sehnsucht nach dem eigenen Seinkönnen, danach, mir selbst geschenkt zu sein wie die ganze Fülle der anderen Wesen geschenkt ist.
Noch steigt diese Sehnsucht mit Verlässlichkeit in mir auf, wenn der Winter dunkler wird. Aber ihr Gegenstand geht verloren. Die Blumen, die sich uns als Geschenke zeigen, weil sie nicht anders sein können, die uns im Frühling als der blühende Ausdruck von Selbstbestimmung, in den Feldrainen und Straßenrändern, entlang der Waldstücke und am Bach zu begrüßen pflegten, lassen sich immer weniger erwarten. In einer industriellen Agrikultur ist solcher Selbstausdruck unerwünscht.
Er wird vernichtet.
Frühling ist nicht länger Aufblühen, sondern ein Termin: Aussaat, die auf das planmäßige Abduschen des Bodens mit einem Totalherbizid folgt.
Im letzten Frühling war ich in der Nähe von Bremen für eine Reportage über einen Biobauern, der sein Geld damit verdient, dass er Edelgemüse für die gehobene Gastronomie anbaut. Auf dem Weg lagen links und rechts leere Landschaften. Substrat, das zerknitterte Maispflänzchen trug, die sich von der Anti-Gras-Gift-Dusche erholten wie Patienten von der Chemotherapie (Mais ist selbst ein Gras). Gemähte Randstreifen, keine Blumen, keine Vögel, keine Schmetterlinge, keine Hummeln. Die Windschutzscheibe blieb sauber. Die Luft war leer. Die Krume war tot. Das Land wie bemalter Beton, braun, grün, farblos.
So etwas ist eine Landschaft, in der Lebewesen das Seinkönnen abgesprochen wird, im Namen der wirtschaftlichen Rationalität.
Aber sich anders zu verhalten, bedeutet für den Bauern seinen wirtschaftlichen Ruin. Zu eng sind die ökonomischen Spielräume, zu Agroindustrie-freundlich die europäischen Vorgaben.
Die agroindustrielle Welt ist ein Ort, an dem keine Frühlingssehnsucht mehr ihren Platz hat, denn diese müsste ja die stille Hoffnung auf Glyphosat sein.
Wenn die Frühlingssehnsucht die Sehnsucht nach meinem eigenen Seinkönnen ist, dann weiß ich in der Agrarlandschaft der Gegenwart, dass ich nicht sein darf. In ihr herrscht ewiger Winter.
Wir alle aber wollen sein. Wir alle haben das tiefe Bedürfnis, uns in unserer ganzen Individualität, als lebendes, atmendes, fühlendes Wesen, in unserer eigenen Wahrheit zu zeigen und darin gesehen zu werden. Das ist die Erfahrung von Glück, nämlich Verbundenheit, in der ich Ich selbst sein kann. Eine Welt, in der dieses Seinkönnen verneint wird, ist darum eine Welt, in der unser Tod gewünscht wird, nicht ausgesprochen, aber doch implizit, als Subtext. Psychologen nennen das eine Double-Bind-Botschaft: Sie vermittelt unterschwellig das genaue Gegenteil von dem, was ihre Worte besagen. Wie ein mit Hass in den Augen gesprochenes Ich liebe Dich etwa.
Double-Bind-Botschaften lösen seelische Störungen aus.
Ein Kind, dass mit solchen Aussagen seiner Eltern groß wird, kann seine Identität nicht entfalten: Es kann nicht sein. Ein Landwirt, der sich sein Leben damit verdienen möchte, dass er seinen eigenen Tod herstellt und eine Landschaft konstruiert, die dieses Totsein inszeniert, kann darin nicht lebendig werden. Es ist interessant, dass unsere Kultur eine Figur dafür gefunden hat, was es heißt, weder tot noch lebendig zu sein: Es ist der Zombie. Wir hoffen auf Frühlingssehnsucht. Wir finden uns in Zombielandschaften.
Eine andere Erscheinungsform des Zombies ist der Faschist.
Ein Faschist verspricht Intensität und Lebendigkeit. Er verheißt Verbundenheit jenen Menschen, die sich als abgetrennt empfinden. Die Lösung, wie diese Intensität erreicht werden soll, ist immer Gewalt, also Abtrennung und Tod. Double Binds brüten Faschismus aus. Man könnte geradezu sagen: Der Double Bind ist das Kennzeichen des Faschismus: Lächelnd zu lügen, empört seine Unschuld zu beteuern, während doch alle wissen, wer es war.
Wir könnten also sagen, dass die Topographie des Nichtseinkönnens, in die wir unsere Landschaften durch die Landwirte verwandeln lassen, die verzweifelt ein Auskommen suchen um leben zu können, selbst faschistisch ist. Faschismus heißt, dass der, der den Tod verschuldet, sich als Retter des Lebens aufspielt. Wie eine Landschaft, die für den Körper Nahrung produziert, indem sie meine Seele verhungern lässt.
Der Ökonom und Historiker Karl Polanyi hat diese Verbindung in den 1940er Jahren gesehen. Polanyi erkannte, dass der europäische Faschismus in einer Situation aufkeimte, in der es immer größeren Kreisen verwehrt war, sich lebendig zu fühlen. Immer weniger durften sich in Kontinuität und Verbundenheit als sie selbst erleben. Auch damals war das eine Folge von Effizienz und Renditezwang. In der ersten Phase der Globalisierung, so weist Polanyi nach, spielte der damalige “Goldstandard” die Rolle, die heute von den Beschützern der totalen Marktfreiheit wie IWF und Weltbank ausgeübt wird.
Um Faschismus zu verhindern, müssen wir also Lebendigkeit ermöglichen.
Seinkönnen gestatten. Räume schaffen, in denen wir alle, Menschen, Tiere, Pflanzen, uns gegenseitig das Sein erlauben können. Denn sonst wird jemand kommen, der den latenten Faschismus der Landschaft, die durch Tod Lebensmittel produziert, zum expliziten politischen Programm macht. Der Menschen Leben verspricht und Tod für Menschen produziert.
Um den Faschismus zu verhindern, heißt es, uns selbst zu gestatten wahr zu sein. Das fängt bei der Frühlingssehnsucht an. Ich will sie mit den Schmetterlingen teilen, mit allen Wesen, die sich von ganz allein ihr Sein erlauben. Wenn ihnen nur keiner im Namen eines besseren Lebens das Leben verwehrt.
Über den Autor
Andreas Weber, geboren 1967, ist Biologe, Philosoph und Schriftsteller. Seit 1996 arbeitet er als freier Journalist, unter anderem für Die Zeit, GEO, National Geographic und das Greenpeace-Magazin. 2010 erhielt er den Deutschen Reporterpreis in der Kategorie Essay, 2012 den Reportagepreis der Deutschen Gesellschaft für Ernährung DGE. Lehraufträge an der Leuphana Universität Lüneburg und an der Universität der Künste Berlin.
2016 erschien sein Buch „Enlivenment. Eine Kultur des Lebens. Versuch einer Poetik für das Anthropozän“ im Matthes & Seitz Verlag.