Von hier aus (Beyond Elsewhere)…oder warum es Aussteigen nicht gibt

Mann zählt Jahresringe auf einer Baumscheibe

Johanna Kirsch und Katharina Lampert sind mit den 68er-Idealen ihrer Eltern aufgewachsen, bunten Wollpullovern, Demos und dem Gedanken, die Welt zu verändern. Was damals mit dem Wunsch nach Cheeseburgern oder Monchhichis noch unverstanden blieb, taucht heute immer mehr in den eigenen Köpfen auf: ein Haus am Land, wieder selbst Gemüse anbauen, Lebensmittel einkochen, Entschleunigung – Aussteigen als romantische Fantasie also. Die Frage ihrer Eltern „Wie wollen wir leben?“ wurde klammheimlich zur eigenen und der Dokumentarfilm „Von hier aus“ zur Suche nach der Antwort.

Morgendämmerung.

Ein Hahn wird geschlachtet, gemeinsam gerupft und dem Kind am Balkon erklärt, dass man ihn nur so später essen kann. Darunter hängt ein Transparent an der Wand des Hofes Wieserhoisl: „Kein Mensch ist illegal“. Vor acht Jahren wurde der Bauernhof in der Weststeiermark von einer guten Handvoll Menschen gepachtet, um ihn als Kollektiv zu bewirtschaften und dort nach eigenen Vorstellungen zu leben. So werden nicht nur Obst und Gemüse angebaut, Schafe geschoren oder selber Fleisch produziert, sondern auch Bauwägen zu Unterkünften umgebaut, Saatgut aus dem eigenen Garten in informativen Aktionen getauscht oder immer wieder aufs Neue die individuellen und gemeinschaftlichen Grenzen ausgelotet.

Sonnenaufgang.

Ute singt auf einer Steinmauer sitzend eines ihrer eigenen, orientalisch anmutenden Lieder. Seit 17 Jahren lebt sie im Südwesten Portugals, nachdem ihr sogar in der „schwäbischen Diaspora“ alles viel zu laut und viel zu dicht erschien. „Ich weiß nicht, worum es geht, aber ich muss jetzt einfach mal Ruhe geben“, sagt die Schamanin, die die Welt und sich selbst täglich kritisch hinterfragt. Dass Arbeit und Geld zusammen gehören oder es nur zwei Geschlechter geben soll, findet Ute gelogen. Das Wasser kommt vom Brunnen, ein bisschen Gemüse aus dem eigenen Garten, das Brot bäckt sie selber, aber Ute ist alles andere als weltfremd geworden: Das Auto ist zum Einkaufen praktischer als die Eselin und mit USB-Internet auf dem MacBook erspart man sich doch 40 Kilometer bis zum Abrufen einer neuen Email.

Sonnenschein.

Wim feilt seine Motorsäge, um damit gleich einen Baum zu fällen. Er zählt die Ringe – ungefähr 50 Jahre dürfte er gewesen, also ca. in der Zeit der 68er-Ideale gepflanzt worden sein. 25 Jahre lang war Wim Architekt und hat sich neben den Entwürfen für Häuser und Schulen mit public space beschäftigt, der als physischer Raum – wo Menschen machen können, was sie wollen – fast unmöglich geworden ist. Wim verwaltet das nahe des französischen Saint-Claude gelegene Gebiet Montavoix, wo er ohne Strom oder fließend Wasser in einer einfachen, aber gemütlichen Schutzhütte lebt. Mit Hilfe von Studierenden und jungen Menschen soll dort über architektonische Interventionen wieder ein öffentlich zugänglicher Ort für alle entstehen. Wim selbst sieht sich dabei nur als Initiator.

Rund ein Jahr suchten Johanna Kirsch und Katharina Lampert nach Menschen mit alternativen Lebenskonzepten, von denen sie viele persönlich trafen, bevor die Entscheidung für die drei Protagonist_innen fiel. Die Wieserhoisler_innen, Ute und Wim – sie alle hatten einen großen Schritt in die Richtung ihrer eigenen Überzeugungen und Sehnsüchte gemacht und sich jeweils auf ihre eigene Weise für ein anderes Leben entschieden. Ihre Utopien wurden zu jenen konkreten Orten, die die Regisseurinnen exemplarisch besuchten und selbst in den Alltag der Protagonist_innen eingebunden Antworten auf die Fragen suchen ließ: „Wie ist es in der Praxis nach seinen Sehnsüchten zu leben?“, und weiter: „Wie kann unter diesen Bedingungen ein Film entstehen?“. Entstanden ist dabei ein sehr ruhiger Film, in dem neben den erzählerischen Passagen statische Landschaftsaufnahmen das Gezeigte entschleunigen und Platz für eigene Gedanken einrichten.

Ausgangsfrage und Produktion sehr persönlich

Nicht nur die Ausgangsfrage der Regisseurinnen ist eine sehr persönliche, sondern auch der Zugang zur Art und Weise des Dokumentarfilmemachens an sich. Statt Menschen scheinbar objektiv von außen zu beobachten, sind sowohl die Regisseurinnen als auch die Entstehung der Bilder essentieller Teil der Geschichte. Mit einem Zurechtrücken der Kamera, einer Regieanweisung, dem Beantworten einer Gegenfrage von Ute zur Arbeitsweise oder dem eigenen Mitarbeiten am Hof lösen sich die Filmemacherinnen vom forschenden, daraufschauenden Blick und machen „Von hier aus“ zur persönlichen, aber gemeinschaftlichen Entdeckungsreise.

Im Zentrum der Reise stehen die inneren Entwicklungen der Protagonist_innen – sind es doch jeweils sehr individuelle Entscheidungen, ein kritisches Überprüfen der Grenzen und Ansichten auf die Welt; weit ab von dogmatischer Strenge, die dem Handeln oft kontraproduktiv im Weg steht. „Da muss eine schauen, was packt sie denn“, würde Ute dazu sagen. Denn die Praxis – ein Kompostklo auszuleeren, Schnee für Teewasser zu schmelzen oder ein Lamm zu zerhacken – ist oftmals nicht mehr so romantisch wie die Fantasie des idyllischen Aussteiger_innenlebens. Der gerne als radikal gedachte Bruch in der Biografie jede_r_s einzelnen erweist sich im Laufe der Auseinandersetzung eher als ein sich in kleinen Etappen abzeichnender, logischer Schritt und hat vielmehr mit „tiefer einsteigen“ (Ute) statt aussteigen zu tun – mit Reflexion und bewusstem Leben. Und so einzigartig die drei Lebensmodelle der in „Von hier aus“ Porträtierten auch sind, sind sie als Beispiele für ein größeres Ganzes zu verstehen: die universelle Idee nämlich, sich bestimmten Strukturen zu entziehen und dorthin zu steigen, wo es für eine_n selber am besten passt.


Text: Mirjam Bromundt

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