Ist die Erde
ein Lebewesen?

Nebelschwaden über Wald

Unter deinen Tritten knirschen herabgefallene Äste, der weiche Waldboden federt deinen Schritt, der Duft von feuchtem Laub und Pilzen erfüllt die Luft, das Rascheln eines Tieres durchbricht die Stille. Die Sonne erschafft ein Spiel aus Schatten und Licht, wenn sie durch die Blätter der Baumkronen scheint. Eine leichte Brise streichelt deine Haut. Rund um dich pulsiert das pure Leben eines Urwalds. Unweigerlich empfindest du diese starke Zugehörigkeit, fühlst dich als eine Zelle im gesamten Organismus Erde, als ein Teil im Netzwerk des Lebens.

In den Geschichten von Naturvölkern oder Mythologien ist die Erde immer göttlich, gar spirituell. Sie wird als Mutter verehrt, aus der alles Leben entspringt. Die Beziehung zur Erde ist dort sehr intensiv und persönlich, ähnlich wie zu einem Familienmitglied. Ich selbst erlebe diese enge Bindung und Nähe jedes Mal, wenn ich naturnahe Ökosysteme betrete, oder über die Zusammenhänge in der Natur höre. Das komplexe Zusammenspiel aus Tieren, Pflanzen und anderen Lebewesen hört nicht auf mich in Erstaunen zu versetzen. Die Wissenschaft beginnt dieses gerade erst zu begreifen.

Die erstaunliche Symbiose der Pflanzenwelt

Sie entdeckt, dass Bäume miteinander „sprechen“, wodurch Bäume mit sehr energiehaltigen Samen sogenannte Mastjahre synchronisieren können. Alle 6 bis 10 Jahre produzieren beispielsweise Eichen derartig viele Eicheln, dass die Tiere sie nicht auffressen können und genug Samen zur Vermehrung verbleiben. Die restlichen Jahre produzieren sie weniger, sodass die Anzahl der fressenden Tiere nicht zu groß wird. Würden die Bäume sich nicht abstimmen, wäre ihr Fortbestand gefährdet.

Aber wie sprechen sie sich ab? Erste Untersuchungen zeigen einen Austausch von Pheromonen über die Luft, aber auch von Botenstoffen, die über ein Pilzgeflecht weitergeleitet werden. Sie teilen sich sogar mit, wenn ein Individuum von einem Schädling befallen ist. Alle Bäume im Netzwerk fahren dann ihre Abwehrstoffe hoch, obwohl sie selbst noch nicht betroffen sind.

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Von Schädlingen befallene Pflanzen geben chemische Signalstoffe in die Luft. Japanische Wissenschaftstreibende visualisierten nun in Echtzeit, wie eine andere Pflanze bei Aufnahme der Signalstoffe Kalziumionen aktiviert, die wiederum Verteidigungsmechanismen auslösen.

Pflanzen nähren sogar mit spezifischen Zuckerverbindungen spezielle Bakterien rund um ihre Wurzeln, interessanterweise Bakterien aus denselben 4 Stämmen, wie wir Menschen sie im Darm haben. Diese Bakterien versorgen die Pflanzen im Gegenzug mit Nährstoffen und schützen sie vor krankmachenden Pilzen und Bakterien.

Das beeindruckende Netzwerk aus Walen und CO2

Oder sehen wir uns ein globales Netzwerk aus Walen und CO2 an, das verblüfft! Der Baustoff unserer Zellen ist großteils Kohlenstoff in verschiedenen Verbindungen, den Pflanzen aus der Luft, nämlich von CO2 erhalten. Mittels Photosynthese wandeln sie CO2 in Kohlenstoffverbindungen und Sauerstoff um. Tiere erhalten als Pflanzenfresser den Kohlenstoff direkt von den Pflanzen, und als Fleischfresser indirekt über die gefressenen Tiere auch von den Pflanzen. Auf diese Art und Weise speichern Wale, die wohl schwersten Tiere, die die Welt jemals bevölkerten, im Schnitt 33 Tonnen Kohlenstoff. Wenn sie sterben, sinken sie oft auf den Meeresboden, wo aus Mangel an Sauerstoff kaum eine Zersetzung stattfindet. Der Kohlenstoff bleibt daher Jahrhunderte dort unten. Im Umkehrschluss müssen wir nur die Walpopulation in den Ozeanen hegen und pflegen, um CO2 in der Atmosphäre zu reduzieren.

Das ist doch schlichtweg genial! Unsere Ökosysteme strotzen nur so vor nützlichen „Technologien“ und Knowhow, von dem wir lernen könnten.

Um es mit Goethes Worten zu sagen:

Das geringste Produkt der Natur hat den Kreis seiner Vollkommenheit in sich, und ich darf nur Augen haben, um zu sehen, so kann ich die Verhältnisse entdecken; und ich bin sicher, dass innerhalb eines kleinen Zirkels eine ganze wahre Existenz beschlossen ist.

Johann Wolfgang von Goethe, Briefe an die Herzogin Louise, 12.–23. Dezember 1786, in Goethes Briefe, Band 2:31.

Oder vereinfacht: Die Natur ist vollkommen, wir müssen die Beziehungen nur erkennen, das komplette Wissen ist schon im kleinsten Teilchen der Natur enthalten.

Jedes Teilchen zählt

Gleichzeitig bedeutet es aber auch:

Mit jeder Art, die […]ausstirbt, geht ein Bündel an Lösungen verloren. Und mit jedem Naturvolk, das verschwindet, geht eine Gruppe von Menschen verloren, die diese spezifischen Lösungen bereits seit Jahrtausenden beobachtet, beschrieben und darin gelebt hat.

Lucas Buchholz in „Kogi“

Für einige amerikanische Naturvölker, wie die Kogi aus Kolumbien, ist die Lösung, die Erde als lebendiges Wesen anzuerkennen. Für dieses Naturvolk, das seine Kultur und Tradition seit 4000 Jahren kaum verändert hat, ist alles lebendig, der Wind, das Wasser, die Lebewesen… In ihrer Muttersprache gibt es kein Wort für Feind, sie sehen es als ihre Aufgabe Ungleichgewichte auszugleichen, indem sie der Erde etwas zurückgeben, wenn zu viel genommen wurde. Bei Ungleichgewichten sehen sie es als selbstverständlich an, dass die Erde durch Naturkatastrophen zurückschlägt.

Gaia-Hypothese oder die Erde als Organismus

Auch in der Wissenschaft treten immer wieder Hypothesen auf, dass die Welt eigentlich ein riesiger Organismus ist. Der schottische Naturwissenschaftler James Hutton verglich in seinem Werk „Theory of the Earth“ (1788) die Stoffkreisläufe in der Atmosphäre, im Ozean und im Boden mit der Zirkulation des Blutes im Körper. 1972 wurde die viel beachtete Gaia-Hypothese vom britischen Wissenschaftler James Lovelock publiziert. (Gaia ist in der griechischen Mythologie die personifizierte Erde und eine der ersten Gottheiten.) Darin beschreibt Lovelock die Erde als eine Art lebendigen Organismus, eine planetarische Einheit, die als Gesamtheit auf Außenreize reagiert und ihren Zustand durch komplexe Regelkreise stabil hält. Die Hypothese wird in Wissenschaftskreisen teilweise kritisiert und belächelt, doch mittlerweile ist vieles von ihr akzeptiert und Teil der Wissenschaft. Wie in der Geowissenschaft, wo vom System Erde die Rede ist.

In gewisser Weise ist also für die Wissenschaft klar, dass die Erde ein System (=Organismus) ist. Ist es uns nicht auch völlig klar? Bleibt irgendein Zweifel, dass die Welt nicht lebendig sei? Dürfen wir dann nicht auch den Schritt wagen, die Erde als ein Wesen mit eigenen Bedürfnissen wahrzunehmen? Ein Lebewesen, dessen Bedürfnisse wir neben unseren berücksichtigen müssen?

Wenn du ehrlich zu dir bist, ist dieser Gedanke so abwegig? Spürst du sie nicht auch, die Lebendigkeit der Erde?


Autorin: Dr. Isabell Riedl

Dr. Isabell Riedl ist seit 2012 in der Werner Lampert GmbH und leitet dort die Nachhaltigkeitsabteilung. Sie studierte Ökologie mit Schwerpunkt Natur- und Landschaftsschutz und Tropenökologie an der Universität Wien. Ihre Dissertation verfasste sie über die Bedeutung von Baumreihen in landwirtschaftlichen Gebieten für Waldvögel in Costa Rica. Zeit ihres Lebens hat sie sich insbesondere der ökologischen Nachhaltigkeit verschrieben. Sie ist Teil des Redaktionsteams des Online-Magazins „Nachhaltigkeit. Neu denken.“

Quellen und Buchempfehlung:

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