Stell dir vor, du bist 4 Jahre alt und dein Vater zeigt dir zehn Wege, wie du deine Schuhe NICHT binden kannst und erklärt dir genau, was dabei alles schiefgehen kann. Wie fühlst du dich?
Ein absurdes Szenario! Journalistin und Autorin Ronja von Wurmb-Seibel zeigt in ihrem Buch Wie wir die Welt sehen mit diesem Beispiel, was ausschließlich negative Nachrichten mit uns machen. Der Fokus auf das Negative – das, was nicht funktioniert – vermittelt uns, dass Zustände nicht änderbar sind, das Problem schlichtweg zu kompliziert ist… in diesem Fall, dass das Schuhebinden ein unmögliches Unterfangen ist!
Überforderung, Hilflosigkeit, Apathie, Ohnmacht, Erschöpfung und Angst sind unsere Reaktion. Zusätzlich sind Gefühle ansteckend – positive wie auch negative. Studien zeigen, dass wir anders auf lösungsorientierte als auf negative, konfliktgeladene Berichterstattung reagieren (ARD Forschungsdienst, Virginia Commonwealth University).
Welche Art der Nachrichten wir konsumieren, wirkt also auf unser Wohlbefinden. Nachrichten beeinflussen, inwieweit wir uns mit Themen auseinandersetzen wollen und damit unser Gefühl für Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit. (ARD Forschungsdienst).
Ronja von Wurmb-Seibel propagiert Konstruktiven Journalismus, der die reinen „Fehlermeldungen“ mit Lösungen und neuen Perspektiven erweitert. Nachrichten werden dadurch eher zu einer Gebrauchsanweisung für die Bevölkerung und auch für Entscheidungstragende.
Kein Wellness-Journalismus
Beim Konstruktiven Journalismus geht es nicht darum, Feel Good Stories zu erzählen. Er unterscheidet sich daher vom positiven Journalismus, der reine Erfolgsgeschichten als Gegengewicht zu negativen Nachrichten erzählt.
Genauso wie der lösungsorientierte Journalismus zeigt er Probleme und zusätzlich Lösungen dafür auf. Konstruktiver Journalismus hat aber auch noch weitere Ansätze.
Journalismus mit neuer Zauberformel
Ronja von Wurmb-Seibel gießt konstruktiven Journalismus in eine kurze Formel:
Scheiße + X = bessere Welt!
Als erstes analysieren wir das Problem genau (die schlechte Welt: soziale Ungleichheit, Klimakrise, Krieg), so wie es der herkömmliche Journalismus sehr gut beherrscht. Der Konstruktive Journalismus geht nun aber einen Schritt weiter: er stellt sich den Idealzustand vor (die bessere Welt: Frieden, Klimaneutralität, gleiche Chancen für alle) und sucht danach, wie dieser erreicht und das Problem beseitigt werden kann (das X in der Formel).
Wie finden wir das X in der Gleichung?
Indem wir…
… zusätzliche Fragen stellen: Die 5 W-Fragen, die jeder journalistische Beitrag in der Regel beantwortet (wer, was, wo, warum, wann, welche Quelle) ergänzen wir mit Was jetzt? Was sind die nächsten Schritte? Wer kann was tun?
… die Perspektive wechseln: anstatt des täglichen Kriegsgeschehens zeigen wir, wie wieder Frieden entstehen kann und wer bereits schon daran arbeitet.
… den Fokus verschieben: Statt auf Mr. Trumps „exotische“ Aussagen zum Klimawandel, fokussieren wir auf die eigentliche Sache: die Klimakrise und klare Maßnahmen, die Politiker*innen umsetzen sollen.
… uns an Vorbildern orientieren: Statt auf die korruptesten Länder, schauen wir auf das „unkorrupteste“ Land (Dänemark) und was es anders macht.
… einen Blick in die Vergangenheit werfen: Wurde mein Problem schon einmal gelöst, wenn ja, wie? Wer war daran beteiligt?
… in die Zukunft schauen: Wir befragen Wissenschaftler*innen, die zukünftige Entwicklungen oft gut voraussagen können!
… den Erfahrenen und Expert*innen auf einem Gebiet zuhören, statt jenen, die gerade am meisten Macht und Einfluss haben.
… Politiker*innen kritisch-konstruktive Frage stellen: Wie kam es zu dem Missstand? Was tun Sie jetzt, um die Fehler wieder zu beheben und sie in Zukunft zu vermeiden?
Immer beliebter, aber ungewohnt
Konstruktive Berichterstattung ist in den USA schon recht verbreitet. Auch in Europa, allen voran in Dänemark, erfährt sie Aufwind. Deutschsprachige Redaktionen experimentieren neben der „normalen“ Berichterstattung bereits mit konstruktiven Formaten. Weltweit bilden sich Netzwerke wie das Solutions Journalism Network oder das Constructive Journalism Project, die Journalist*innen ausbilden.
Weil unser Gehirn gerne auf Negatives fokussiert und wir vorwiegend negative Nachrichten konsumieren, erscheint uns Berichterstattung ohne Polarisierung, Konflikte und Skandale ungewohnt, auch den Medien selbst. Laut einer Studie des Grimme Instituts befürchten viele Journalist*innen, als zu wenig distanziert, zu unkritisch oder zu aktivistisch wahrgenommen zu werden.
Immer mehr Menschen fordern jedoch faktenbasierte, lösungsorientierte und weniger polarisierende Berichterstattung. Sie zahlen eher dafür und bleiben länger bei den Beiträgen. Sie wollen diverser und tiefgehender informiert werden und mehr Perspektiven sehen (Grimme Institut, ARD Forschungsdienst).
Konstruktiver Journalismus bringt‘s
Laut dem ARD Forschungsdienst löst Konstruktive Berichterstattung mehr positive Emotionen bei Nutzer*innen aus, stärkt deren Widerstandsfähigkeit und stärkt auch das Vertrauen in den Journalismus. Die Art, wie berichtet wird, bewerten Befragte durchwegs positiv. So kann Interesse am Journalismus gesteigert werden, vor allem bei Menschen, die traditionelle Medien wenig konsumieren (Jugendliche, weniger Gebildete) oder Nachrichten bewusst vermeiden (RESET).
Und noch viel wichtiger, eine Studie der Southampton University zeigt, dass bei mehr positiver Berichterstattung die Motivation, sich für etwas einzusetzen, steigt.
Berichten Medien immer wieder über die Lösungen, die bereits existieren, erhöhen wir auch den Druck auf Entscheidungsträger*innen, zu handeln und Missstände zu beheben. Wolfgang Blau, Wissenschaftler am Reuters Institut schloss aus seinen Untersuchungen:
Genau diejenigen, die jahrelang versucht hatten, mit gezielten Falschinformationen zu behaupten, es gäbe überhaupt keinen Klimawandel, behaupten jetzt, die Krise sei so drastisch, dass man nun mal nichts dagegen tun könne. Machthabende mit konstruktiven Mitteln zu konfrontieren ist ein wirksames Mittel, Verantwortung zurückzugeben an diejenigen, die sie tatsächlich innehaben.
zitiert in Wie wir die Welt sehen
Konstruktiv über die Herausforderungen unserer Zeit zu sprechen, macht nicht bei den Journalist*innen Halt. Wir alle können auf die Suche nach dem X in unserer Gleichung gehen und sie anderen weitererzählen. Ronja von Wurmb-Seibel plädiert für mehr Geschichten, die uns Mut machen! Mut dazu, unsere globalen Probleme aktiv anzugehen und nicht wegzusehen.
Mit großem Interesse habe ich Ihre Artikel gelesen. Bei konstruktivem Journalismus finde ich es zudem auch wichtig, in die Berichterstattung immer wieder Fragen (keine Suggestivfragen) an die Leser*innen einzubeziehen. Somit ist es einfacher, sich ein Bild zu machen und kognitiv beteiligt zu bleiben. Es ist wichtig, den Menschen Informationen nicht nur vorzusetzen (dazu gehören auch Lösungsansätze), sondern sie zum Mitdenken anzuregen, damit sie einen gelesenen Artikel nicht nur konsumieren, sondern während des Lesens eigene Verbindungen zwischen den Informationen herstellen.