Ernährungssouveränität ist ein junges Wort aus dem ausklingenden 20. Jahrhundert, aber dahinter liegt eine lange Geschichte. Um Bedeutung und Entwicklung verstehen zu können, müssen die Veränderungen in Produktion und Handel ab der Industrialisierung im 19. Jahrhundert genauso wie der gesellschaftliche Wandel betrachtet werden.
Beginnen wir mit einem Blick ins 18. Jahrhundert. Bis dahin war die Nahrungsmittelversorgung noch recht überschaubar. Auch wenn nach den Erkundungen von Seefahrern wie Christoph Kolumbus bereits neue Lebensmittel den Weg nach Europa fanden: 99 Prozent aller Produkte wurden in einem Umkreis erzeugt, den die Verbraucher vom Kirchturm ihres Dorfes überblicken konnten.
Der historische Bruch erfolgte mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Rohrzucker aus Amerika versorgte die Arbeiterklasse mit dringend benötigten Kalorien, während technische Entwicklungen wie das Dampfschiff oder neue Gefrierverfahren ganz neue Möglichkeiten im Ernährungssystem vorantrieben.
Vom Marshallplan zum Welthandel
In Folge der beiden Weltkriege waren in Europa viele Jahrzehnte von Mangel und Hunger geprägt. Besonders hart traf die Lebensmittelnot die Menschen in den Städten, da sie mehr und mehr auf die öffentliche Versorgung angewiesen waren. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges reichte diese zum Beispiel nur mehr für rund 830 Kalorien pro Kopf. Die Lage verbesserte sich nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem durch ausländische Lebensmittelhilfe im Rahmen des Marshallplans. Die USA investierten damit von 1948 bis 1952 rund 13 Milliarden Dollar in die europäische Wirtschaft. So wurde den Europäern nicht nur der „Geist des Wiederaufbaus“ vermittelt, sondern auch ein Markt für die amerikanische Überproduktion geschaffen. Ein strategischer Schritt, der den amerikanischen Einfluss auf dem alten Kontinent festigte und historisch gesehen so etwas wie Welthandel entstehen ließ.
Parallel dazu hat sich die Ernährungssituation in den letzten 50 Jahren in den westlichen Industrieländern auch aufgrund des gesellschaftlichen Wandels stark verändert. Einerseits durch den wirtschaftlichen Aufschwung und Wohlstand und andererseits durch die moderne Nahrungsmittelproduktion und den vielfältigen Einsatz von Technik. Zusätzlich haben sich sowohl die Familiensituationen als auch das Arbeitsleben stark gewandelt und zu neuen Formen im Ernährungsverhalten geführt. Das tägliche gemeinsame Familienessen wurde mehr und mehr zur Ausnahme, da Zeitressourcen immer knapper werden und der organisatorische Aufwand für Einkaufen, Kochen und Wegräumen als tägliche Belastung empfunden wird. Industriell erzeugte, conveniente Nahrung hat Einzug in alle Lebensbereiche und Haushalte gefunden.
Die automatisierte Produktion in großen Mengen und von gleichbleibender Qualität verlangt nach landwirtschaftlichen Rohstoffen, die dafür die besten Eigenschaften aufweisen und am leichtesten zu verarbeiten sind. Die Landwirtschaft wurde durchrationalisiert, ihre Produkte wurden zu international gehandelten Waren. Von nun an zählten einheitliche Normen – etwa bei Grundnahrungsmitteln wie Kartoffeln oder Mais – und eine billige Herstellung. Die Folge: Ab der späten Neuzeit verschwand die Vielfalt auf Äckern und Feldern. Alte Sorten gingen verloren. Laut Welternährungsorganisation FAO verschwanden in den vergangenen 100 Jahren 75 Prozent aller Kulturpflanzen.
Für Bergbauern wurde die Luft dünner
Einerseits traten im Laufe der 1950er Jahre durch wirtschaftlichen Aufschwung und technische Erneuerungen Mangel und Hunger als Sorgen der täglichen Ernährung in den Hintergrund. Andererseits gerieten die regionalen Lebensmittelproduzenten zunehmend unter Druck. Auch in Österreich und Europa. Deutlich wird das etwa am Beispiel der heimischen Bergbauern. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte eine gravierende Mechanisierungswelle ein. Die Knechte und Mägde verschwanden und die menschliche Arbeitskraft verlor an Bedeutung. Mit der Kapitalisierung der Agrarproduktion ab den späten 1950er-Jahren kam vor allem die Kleinlandwirtschaft in Bedrängnis. Das Stichwort lautete „Wachsen oder Weichen“. Und dieses hallt bis heute nach: Waren 1951 noch rund 30 Prozent der Berufstätigen Österreichs in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt, sind es derzeit nur noch rund 5 Prozent. Zu diesem Trend kommt: Bergbauernhöfe – früher Unternehmen mit Bediensteten – sind heute Familienbetriebe, die oft ohne zusätzliche Einnahmen durch den Tourismus nicht existieren können.
Die eigene, kleine Landwirtschaft verschwand mehr und mehr, Massentierhaltung und industrialisierte Getreideproduktion entstanden. Diese Entwicklungen setzten weltweit ein und der internationale Handel nahm professionell Fahrt auf.
NAFTA, Zapatismus und die Anerkennung der Ernährungssouveränität
Die Idee der Ernährungssouveränität – auch wenn sie damals noch nicht so bezeichnet wurde – hat seine Wurzeln in den ersten bäuerlichen Aufständen in Mexiko aus dem Jahr 1994 – bekannt geworden als Zapatismus. Damals trat mit Beginn des Jahres 1994 das Freihandelsabkommen NAFTA in Kraft, das von der westlichen Welt als globale Errungenschaft und Sicherung der Handelsfreiheit gefeiert wurde. „Ab dem Inkrafttreten des WTO-Abkommens über die Landwirtschaft […] wurden zahlreiche Staaten, die ihre Bevölkerung zuvor selbst ernähren konnten, gezwungen, ihre Handelsschranken abzubauen. Als US-amerikanische und europäische Produkte mithilfe von Exportförderungen und anderen Subventionen zu Dumpingpreisen auf die geöffneten Märkte strömten, verloren hunderttausende Bauern ihre Existenzgrundlage.“ (Quelle: Irmi Salzer, Kleinbäuer*innen ernähren die Welt) Als strategische Maßnahme abseits PR-trächtiger Guerilla-Aktionen wurde das Konzept der Ernährungssouveränität 1996 von der Kleinbauernorganisation La Via Campesina (zu dt. der bäuerliche Weg) entwickelt und zum „World Food Summit“ der FAO (Quelle: Food and Agriculture Organization of the United Nations) im Rom veröffentlicht. Seit 1996 befindet sich das Konzept für das Recht auf gesunde und kulturell entsprechende Nahrung, die durch nachhaltige Methoden produziert wird, sowie das Recht auf die Gestaltung eigener Lebensmittel- und Landwirtschaftssysteme weltweit im wissenschaftlichen Diskurs. Im Mittelpunkt des Konzepts stehen die Bedürfnisse und die Existenzgrundlagen der Produzenten, Distributoren und Konsumenten in den Lebensmittelsystemen und nicht die Interessen der Märkte und Unternehmen (Quelle: Heitzlhofer Theresa, Ernährungssouveränität in: Umwelt und Bildung, 3/11, Wien 2011).
Der Weltagrarbericht 2008 behandelt Ernährungssouveränität als ein zentrales Thema und beschreibt es wie folgt: „In Bezug auf den Welthandel bedeutet Ernährungs-Souveränität: Das Recht von Staaten, ihre Lebensmittelproduktion selbst zu gestalten. Das Recht darf nicht von der WTO und einzelnen Handelspartnern eingeschränkt werden. Kreditauflagen und Strukturanpassungs-Programme des Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank dürfen das Recht ebenso wenig einschränken: Sie zwingen Entwicklungsländer regelmäßig zum Verzicht auf staatliche Saatgutverteilung, auf Handelskontrollen und auf Lebensmittel-Reserven, oder zur Förderung von exportorientierten Anbauprogrammen – um ihre Schuldenlast zu reduzieren.“(Quelle: Weltagrarbericht)
Im Bezug auf nationale Ernährungssouveränität bedeutet das Selbstbestimmung und demokratische Selbstorganisation sowie das Verfügen über landwirtschaftliche Produktionsmittel.
Ernährungssouveränität – wie geht es weiter?
Zahlreiche große Länder haben ein massives Interesse daran, landwirtschaftliche Produkte zu exportieren und mit ihnen zu handeln. Dass aus riesigen Agroindustrien wie z.B. den USA viele Produkte in großen Mengen und zu sehr günstigen Prisen produziert werden können, ist kein Geheimnis. Was passiert dann mit unseren heimischen Bauern? Können auch sie dann ihre Produkte nicht mehr verkaufen, weil sie höhere Preise erzielen müssen? Muss die Landwirtschaft dann noch intensiver geregelt und subventioniert werden? Ernährungssouveränität ist für ein Land von sehr großer Bedeutung. Seine Bürger aus eigener Kraft ernähren zu können, ist dabei nur ein Aspekt.
Die hohe Qualität heimischer Produkte, der Erhalt unserer Landschaft und die Würde eines ganzen Berufsstandes sind zahlreiche weitere Punkte, die betrachtet werden müssen.
Birgit Farnleitner, Master in Gastrosophy und Kommunikationsexpertin ist seit 2014 in der Werner Lampert BeratungsgmbH in leitender Funktion tätig. Sie besuchte den Lehrgang Werbung und Verkauf an der WU Wien und absolvierte später an der Paris Lodron Universität den interdisziplinären Masterstudiengang Gastrosophische Wissenschaften. In ihrer Masterthesis beschäftigte sie sich mit Nachhaltigkeit und Ethik in der Lebensmittelproduktion. Dieses Themenfeld prägt seither ihr berufliches und privates Leben maßgeblich. Sie ist Teil des Redaktionsteam des Online-Magazins „Nachhaltigkeit. Neu denken.“