Was passiert in uns, wenn wir eine Krise durchleben? Können wir aus ihr gestärkt herausgehen, oder ist das utopisch? Müssen wir die Krise als Chance sehen? Philosophin Natalie Knapp beantwortet dies mit teils überraschenden Antworten.
Was passiert im Menschen, wenn er mit Krisen konfrontiert wird?
Menschen erleben diese Situationen sehr unterschiedlich. Ich kenne Zwillinge, die als junge Mädchen im zweiten Weltkrieg in Berlin viel Zeit in Bunkern verbringen mussten, dieselbe Geschichte, dieselbe Familie und doch haben beide die Krise ganz unterschiedlich erlebt und sind auch ganz unterschiedlich daraus hervorgegangen. Die eine stark und lebensfroh, die andere bis heute bedrückt. Welche Erfahrungen wir in solchen Momenten machen und wie wir sie später bewerten, hat ganz viel mit der eigenen Perspektive auf das Leben zu tun. Aber natürlich auch damit, wie existentiell die Krise ist, wie viele unterschiedliche Herausforderungen es gleichzeitig zu bewältigen gibt und auf welche Ressourcen wir zurückgreifen können.
Aktuell sind viele Menschen verunsichert, welchen Ratschlag können Sie ihnen geben?
Es ist von zentraler Bedeutung das Gefühl der Unsicherheit neu zu bewerten. Denn die Unsicherheit sagt uns nicht, dass wir etwas falsch machen, sondern nur, dass sich in unserem Leben oder in unserer Kultur gerade etwas entwickelt, das wir noch nicht kennen und wofür wir noch keine Routine haben. Wenn wir uns unsicher fühlen, sind wir aufgefordert, einen ganz neuen Weg zu bahnen, und die Unsicherheit ist ein hilfreiches Gefühl, um sich Schritt für Schritt auf einem neuen Gelände voranzutasten. Man muss immer wieder prüfen, ob der Boden noch trägt und gegebenenfalls eine andere Richtung einschlagen.
Welche Chancen sehen Sie in der Coronakrise?
In Krisenzeiten kann sehr viel mehr bewegt werden als sonst, weil alle Beteiligten die Notwendigkeit für ungewohnte Lösungen und kreative Wendungen erkennen.
Durch die Klimakrise leben wir ohnehin in einer Zeit, in der sich sehr viel bewegen muss, damit die Menschheit zukunftsfähig bleibt. Aber bislang ist viel zu wenig passiert, weil niemand gerne seine Gewohnheiten verändert. Daher ist es eine riesige Chance, die Anschubenergie der Coronakrise zu nutzen, um längst fällige Veränderungen für ein nachhaltigeres Leben und Wirtschaften anzustoßen. Ob das tatsächlich passieren wird, hängt von vielen Faktoren ab. Es wird sehr stark darauf ankommen, ob staatliche Wiederaufbauprogramme an Klimaprogramme geknüpft werden.
Haben Sie Ideen, wie sich die Menschen das derzeitige Aufbruchsgefühl, das erhöhte Bewusstsein und die Sensibilität bewahren können, um später positiv an den Wiederaufbau zu gehen?
Die größte Gefahr in einer Krise besteht darin, dass man sich wünscht, alles möge schnell wieder so werden wie vorher und deshalb viel Energie investiert, damit sich möglichst nichts bewegt. Aber das Potential der Instabilität liegt gerade darin, dass sie Bewegung erzeugt und Veränderungen ermöglicht. Es geht also gar nicht darum jetzt schon zu wissen, wie es anschließend weitergehen wird, sondern darum, die Zeit der Krise zu nutzen, um in eine größere Offenheit hineinzuwachsen.
Krisen sind Momente, in denen sich das Leben erneuert. Vielleicht erinnern Sie sich an Richard Linklaters Film Boyhood. Da gibt es diese wunderbare Schlussszene: Der junge Mann ist von zu Hause ausgezogen und geht ins College. Da sitzt er dann mit einer Freundin draußen auf einem Hügel und sie sagt zu ihm: „Alle sagen doch immer: mach was aus deinem Leben, mach was aus jedem Augenblick. Aber ich weiß nicht, irgendwie glaube ich, es ist andersrum. Der Augenblick macht was mit uns.“ Das gilt ganz besonders für Übergangszeiten oder Krisen. Sie verwandeln uns.
Deshalb geht es nicht in erster Linie darum, den Umbruch in den Griff zu bekommen, es geht darum, eine Erfahrung zu machen. Solche Erfahrungen verändern unseren Blick auf die Welt und aus dieser Veränderung in uns entsteht etwas Neues. Das ist nichts, was wir machen, sondern etwas, was mit uns geschieht. In diesen Momenten sind wir das Samenkorn für die Zukunft, der Augenblick nutzt uns.
Für viele ist die Coronakrise vor allem eine Wirtschaftskrise, die überwunden werden muss und nachher soll es weitergehen, wie zuvor. Dem kann nur eine bewusstere Gesellschaft entgegenwirken. Haben Sie Tipps, wie man dem Zurückfallen in schlechte Gewohnheiten vorbeugen kann?
Schlechte Gewohnheiten kann man leider nur ersetzen, indem man sich hilfreichere Verhaltensweisen antrainiert. Denn es liegt in der Natur des menschlichen Gehirns, Gewohnheiten zu bevorzugen. Die meisten Menschen haben sich beispielsweise von Kind an angewöhnt Preise zu vergleichen. Wenn sie begreifen, dass der Preis der – auf einem kleinen Hof biologisch angebauten – Karotte nicht mit dem einer massenproduzierten Supermarktkarotte verglichen werden kann, wird ihr Gehirn trotzdem weiter die beiden Preise vergleichen und die biologische Karotte für maßlos überteuert halten. Das kann man nur überwinden, wenn man klare Werteentscheidungen trifft und so lange anders handelt, bis es zu einer Haltung geworden ist. Ein paar Wochen reichen dafür leider nicht aus. Aber es hilft enorm, sich mit gleichgesinnten Menschen zu verbinden, die sich die angestrebte Haltung bereits zur Gewohnheit gemacht haben.
Meine Kollegin Ariadne von Schirach hat einmal gesagt: Der Mensch ist das einzige Tier, das sich ein Haus bauen kann, in dem es nicht wohnen will. Wir müssen anfangen uns Häuser zu bauen, in denen wir wohnen wollen. Und das bedeutet eben etwas zu tun, dass die Welt besser wird. Jeden Tag.
Neben Berufsgruppen, die jetzt viel mehr Zeit haben, gibt es auch solche, die mit einer großen Mehrfachbelastung zu kämpfen haben (finanzielle Sorgen, Kinderbetreuung, Stress in der Arbeit…). Wie könnten auch diese Menschen eine Chance in der Krise sehen?
Der Begriff der Krise stammt aus dem griechischen, er bezeichnete ursprünglich den Moment in einer fieberhaften Erkrankung, in dem sich entscheidet, ob ein Mensch gestärkt aus der Erfahrung hervorgeht oder ob er stirbt. Die Krise ist eine echte Herausforderung für das gesamte System. Daher spreche ich eigentlich gar nicht so gerne von der Krise als Chance, weil sich das für viele Menschen so anhört, als müsse man mitten in der Krise bereits wissen, worin die Chance besteht. Aber zunächst geht es einfach nur darum, irgendwie durchzukommen. Und erst sehr viel später wird sich zeigen, was daraus gewachsen ist.
Wie nehmen Sie persönliche die Krise wahr? Haben Sie schon positive Aspekte darin entdeckt?
Die Stille. Als sie eintrat, hatte ich das Gefühl, ich hätte mein Leben lang darauf gewartet. Dazu gehört auch, dass nicht mehr ständig alle ans Einkaufen denken und dieses konsumorientierte Hintergrundrauschen in den Köpfen aufhört. Dadurch ist eine Atmosphäre entstanden, die ich als lebensspendend empfinde, eine größere Weite in der Luft, im Empfinden und im Gedankenraum. Dass sich so viele Menschen in kürzester Zeit auf Wesentlicheres als Einkaufen und Erledigen ausrichten, hätte ich nicht für möglich gehalten.
Und natürlich, dass das Wasser in den Kanälen von Venedig glasklar ist und die Fische zurückgekehrt sind, dass der Himmel über der chinesischen Stadt Wuhan so klar ist wie seit Jahrzehnten nicht, dass sich die Natur so rasch erholt, wenn wir sie nicht weiter ausbeuten und dass wir in der Lage sind, uns schneller zu verändern als es uns bewusst war. Das waren für mich bislang die wichtigsten Erkenntnisse aus dieser Krise.
Über Dr. Natalie Knapp
Dr. Natalie Knapp ist Philosophin, Rednerin und Publizistin. Sie leitet Seminare, berät Führungskräfte und hält Vorträge über Komplexitätsbewältigung, die Krise als Chance oder darüber, wie man mit der Unsicherheit Freundschaft schließt. Als Autorin populärer Sachbücher veröffentlichte Knapp „Der unendliche Augenblick: Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind“, „Kompass neues Denken: Wie wir uns in einer unübersichtlichen Welt orientieren können“ und „Der Quantensprung des Denkens: Was wir von der modernen Physik lernen können“.