Unsere Gesellschaft lebt auf Pump und macht Schulden bei Mutter Erde. Der Volkswirt Reinhard Loske beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Frage, wie Systeme zukunftsfähiger gestaltet werden könnten und bietet interessante Ansätze. In diesem Interview wird ein neuer ökonomischer Blickwinkel auf Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit gewährt.
Herr Loske, wie definieren Sie ökologische Zukunftsfähigkeit aus Ihrer Sicht als Volkswirt und mit Ihrem langjährigen Hintergrund in der Politik?
Meine Antwort als Sozialökologe: Es geht um Fairness gegenüber nachfolgenden Generationen, Menschen in anderen Teilen der Welt und gegenüber der nicht-menschlichen Mit-Kreatur, den Tieren und Pflanzen, also um intergenerative, internationale und inter-kreatürliche Gerechtigkeit.
Als Ökonom würde ich sagen: Wir müssen wieder lernen, vom Natureinkommen zu leben und nicht das Naturkapital aufzuzehren. Wenn wir es doch tun, also immer weiter vom Sparbuch der Natur abheben, wird sie uns irgendwann ihre Gratisdienstleistungen nicht mehr schenken. Ein stabiles Klima, biologische Vielfalt, produktive Böden, Bestäubungsdienstleistungen, sauberes Wasser, gute Luft sind durch unsere Art zu wirtschaften aufs äußerste gefährdet.
Als Politiker sage ich: Ökologie und Nachhaltigkeit sind keine „weichen“ Nebenthemen mehr, sondern „harte“ Hauptthemen.
Ihr Buch „Politik der Zukunftsfähigkeit“ wurde von der Deutschen Umweltstiftung zum Umweltbuch des Jahres 2016 gewählt. Darin beschreiben Sie die „Konturen einer Nachhaltigkeitswende“. Wie kann der Weg zu einer ökologisch zukunftsfähigen Gesellschaft aussehen?
Dazu sind alle Akteure in der Gesellschaft gefordert und die Politik muss den Rahmen setzen: Nachhaltigkeit gehört in die Verfassung! Gesetze, Steuererhebung und Staatsausgaben sind konsequent danach auszurichten. Bei Unternehmen müssen neben klassischen Bilanzen, Gewinn- und Verlustrechnungen auch Stoffstrom- und Gemeinwohlbilanzen treten.
Die Preise müssen die ökologische Wahrheit sagen.
Gleichzeitig besteht die Gesellschaft nicht nur aus Konsumenten, sondern auch aus Bürgern, deshalb sind nachhaltiger Konsum und sozial-ökologischer Bürgersinn gleichermaßen wichtig.
Und vor allem: Nachhaltigkeit muss in Kindergarten, Schule, Hochschule und Berufsausbildung umfassend und holistisch vermittelt werden.
Sie haben wiederholt eine Abkehr von der obsessiven Fixierung Europas auf Wirtschaftswachstum, Wettbewerb und Freihandel gefordert. Welche Rahmenbedingungen braucht es für eine Ökonomie der Nachhaltigkeit? Wo müsste man konkret ansetzen?
Es geht um die Wiedereinbettung der Ökonomie in Natur, Gesellschaft und Kultur. Sharing, gemeinsame Anschaffung von Konsumgütern und das „Prosumieren“- also die Überwindung der Entfremdung zwischen Konsumierenden und Produzierenden, werden an Bedeutung gewinnen. Zugang wird wichtiger als Besitz. Die Gemeinschaftsgüter werden eine Renaissance erfahren. Kreislaufwirtschaft und Klimaneutralität werden zu ökonomischen Erfolgsstrategien. Wir steuern außerdem auf eine Dualökonomie zu. Auf der einen Seite dominieren Gewinn-, Umsatz-, Wettbewerbs- und Wachstumsinteressen, auf der anderen Seite geht es um Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Suffizienz wie Konsumverzicht oder Entschleunigung und Kooperation. Die Brücke zwischen beiden Welten könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen sein, damit sich jede und jeder, das ihr und ihm gemäß erscheinende Tätigkeitsmenü aus Erwerbsarbeit, Eigenarbeit, Familienarbeit, Nachbarschaftshilfe, sozialem Engagement und kulturellen Schaffen zusammenstellen kann. Das passiert aber alles nicht von selbst, sondern muss politisch gestaltet werden.
Welche wirtschaftspolitischen Herausforderungen sehen Sie auf dem Weg zu einer ökologisch zukunftsfähigen Industriegesellschaft – Stichwort Energiewende, Agrarwende oder Verkehrswende?
Die Felder sind unterschiedlich zu bewerten. Bei der Energiewende, die ja durchaus erste Erfolge zu verzeichnen hat, geht es darum, sie im „Gesellschaftsmodus“ zu halten und nicht wieder zu einem reinen „Geschäftsfeld“ werden zu lassen, auf dem große Energiekonzerne den Ton angeben. Reduktion des CO2-Ausstoßes, kleinstrukturierte Energieversorgung, Vernetzung und Bürgerenergiegenossenschaften sind hier die Stichworte.
Ob man sie mag oder nicht: Die Digitalisierung wird die Energiewelt stark verändern. Digitale Steuerung von Licht, Heizung und Energieverbrauch zuhause, all das wird wichtiger.
Im Verkehrsbereich sehe ich fünf große Lösungsansätze: Aktive und gesundheitsorientierte Mobilität, also Zufußgehen und Radfahren, gewinnen vor allem in den Städten an Bedeutung. „Nutzen statt besitzen“, also das Car, Bike und Ride Sharing, wird eine neue Leitorientierung. Die Digitalisierung kann, wenn man sie richtig gestaltet, wegen der Möglichkeiten der Echtzeitinformation und der Schnittstellenoptimierung einen enormen Push für intermodale Verkehre bringen. Die Elektromobilität ist ebenfalls ein starker Treiber von Veränderung, muss aber mit erneuerbaren Energien gekoppelt werden, wenn sie ökologisch etwas bringen soll. Elektromobilität bei Auto, öffentlichen Verkehrsmitteln und Rad wird kommen, das ist sicher. Weniger sicher ist, dass auch das autonome Fahren sich durchsetzt.
Im Agrarbereich muss die Orientierung lauten: Weg von Massentierhaltung, hohem Fleischkonsum und Exportorientierung, hin zu Regionalisierung, Qualitätsproduktion und gesunder Ernährung. Die EU-Agrarpolitik, die jetzt zur Reform ansteht, muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Nicht Masse darf gefördert werden, sondern Klasse und gesellschaftlicher Nutzen. Nur so können auch die Landwirte wieder die gesellschaftliche Anerkennung bekommen, die sie verdienen.
Im Moment begegnet man vor allem zwei Denkmustern: Entweder der Einzelne ändert seine Verhaltensweisen und in der Folge ändern sich die Verhältnisse – oder die Politik schafft förderliche Rahmenbedingungen. Sie fordern ein „Gegenstromprinzip“, das beides vereint. Was verstehen Sie darunter?
Ich habe gesellschaftliche Veränderungsprozesse in den Bereichen Energie, Verkehr, Landbau und Ernährung, Chemie, Wasser und Ressourcenverbrauch untersucht. Bei aller Unterschiedlichkeit kann man doch meist eines erkennen: Es braucht Pioniere und Vorreiter, die den Anfang machen, aber es braucht ab einem bestimmten Punkt auch politisch förderliche Rahmenbedingungen, um Nachhaltigkeitsinnovationen aus der Nische in den Mainstream zu bringen. Man kann es so sagen: Am Anfang steht der Widerstand gegen das „Falsche“ (Atomkraft, Kohle, autogerechte Stadt, Massentierhaltung …). Dann kommt die Pionierpraxis in der Nische, die sich durch wechselseitiges Lernen langsam verbreitet und an Relevanz gewinnt. Dann kommt der Punkt, an dem die Politik sich entscheiden muss, ob sie fördern oder blocken will. Bei der Energiewende hat sie sich in Deutschland, bei aller Kritik im Detail, für das Fördern entschieden. Bei der Agrarwende und der Verkehrswende ist aber bislang das Gegenteil der Fall. Das muss für die „geschützten“ Branchen nicht unbedingt gut sein. Man schaue sich nur den Zustand der deutschen Autoindustrie an. Und viele Bauern merken zunehmend, dass ihnen der Zwang zur Massenproduktion gar nicht guttut. Sie leiden an Kosten- und Produktionsdruck und an mangelnder gesellschaftlicher Anerkennung.
Der Wunsch nach „immer mehr“ bestimmt nach wie vor das Lebensmodell vieler Menschen im Westen. Um eine breite Abkehr vom Wachstum zu vollziehen, müssten sich der Lebensstil und die dahinterstehenden Wertvorstellungen grundlegend ändern. Ist das überhaupt möglich?
Na klar, in den westlichen Überflussgesellschaften erleben wir in einem bestimmten Segment der Gesellschaft ja durchaus eine Tendenz zum Überdruss am Überfluss.
Sich vom Wohlstandsballast zu befreien und sein Leben einfacher und vor allem konzentrierter zu führen, das ist für viele durchaus eine Option.
Gesamtpolitisch sieht es schwieriger aus, weil ja viele gesellschaftliche Subsysteme heute am Wachstum hängen wie der Junkie an der Nadel. Da ist Politik gefordert.
In der Nachhaltigkeitsdebatte gewinnt auch die Ökonomie der Resilienz immer mehr an Zuspruch – in dem Sinne, dass sich Systeme besser gegen externe Schocks schützen können und sollen. Welches Potenzial bietet hierfür etwa ein Europa der Regionen?
Ich verstehe Resilienz vor allem als Robustheit und als Fähigkeit, mit externen Störungen umzugehen. Wer 100 Prozent seiner Energie und seiner Ressourcen importiert, geht eben bei einer Energie- oder Ressourcenkrise unter. Strategien der Re-Regionalisierung und der De-Globalisierung gehören zu jeder Nachhaltigkeitsstrategie, aber nicht im Sinne von Autarkie und Abschottung, sondern im Sinne von Autonomie und Subsidiarität.
Der große britische Ökonom John Maynard Keynes hat das schon vor über achtzig Jahren wunderbar beschrieben: „Ideen, Wissen, Kunst, Gastfreundschaft, Reisen – das sind Dinge, die ihrer Natur nach international sein sollten, aber lasst Güter in der Heimat herstellen, wenn immer es sinnvoll und praktisch möglich ist. Ich bin nicht überzeugt, dass die wirtschaftlichen Erfolge der internationalen Arbeitsteilung heute noch irgendwie mit den früheren vergleichbar sind.“
Besser kann man das auch heute nicht sagen.
Reinhard Loske (*1959) ist ein deutscher Volkswirt und ehemaliger Politiker (Bündnis 90/Die Grünen). Er ist Professor für Politik, Nachhaltigkeit und Transformationsdynamik an der Universität Witten/Herdecke. Bekannt wurde Loske vor allem durch seine Forschungsarbeiten am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie (1992–1998) und am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (1990–1991). Er veröffentlichte diverse Bücher – unter anderem „Klimapolitik“ (1997), „Greening the North“ (1997) oder „Politik der Zukunftsfähigkeit“ (2015).