Es ist ein kalter Dezembertag in der Hainburger Au. Tausende Menschen lassen sich nicht davon abhalten, durch den Auwald zu streifen. Mit im Gepäck: laute Parolen, kampflustige Schilder und viel Leidenschaft. Die Zerstörung des Naturwunders zugunsten eines Donaukraftwerks muss verhindert werden – denn die Bagger stehen schon bereit. Ihr Engagement wird sich auszahlen: Durch den Aufstand der Bevölkerung wurde 1984 die Rodung des Waldes abgewehrt. Der erste große Sieg der Zivilgesellschaft ist mittlerweile längst zum österreichischen Mythos aufgestiegen.
Das Feuer brennt noch
Doch handelte es sich bei den Hainburger-Protesten um ein einmaliges Ereignis in der jüngeren Geschichte? Mitnichten. Denn wer genauer hinsieht, erkennt, dass die Flamme in der österreichischen Bevölkerung nie ganz zum Lodern aufhörte – auch wenn es manchmal den Anschein hat. Das belegt zum Beispiel ein aktuelles Forschungsprojekt des Politikwissenschaftlers Martin Dolezal von der Universität Wien. Seine Studie „Die österreichische Protestarena im 21. Jahrhundert“ zählt rund 8.500 Protestereignisse in Österreich zwischen 1998 und 2016. Der häufigste Protestgrund mit über einem Fünftel Anteil: Umweltthemen. Wobei hier auch Demos gegen Atomenergie und Gentechnik in der Landwirtschaft sowie Aktionen von Tierschützern eingeschlossen werden.
SOS Mitmensch – Lichter der Hoffnung für alle
Rund 10.000 Menschen zogen Mitte November 2017 mit Kerzen, Fackeln und Blinklichtern in das österreichische Regierungsviertel, um für Mitmenschlichkeit und eine soziale Gesellschaft ihre Stimme zu erheben. Dazu aufgerufen hatte SOS Mitmensch. Die Mission der Pressure Group: Gemeinsam für Menschenrechte kämpfen. Am 10. Dezember 1992 gegründet, engagiert sich SOS Mitmensch für Gleichberechtigung und Chancengleichheit aller Menschen.
Drei Zutaten, die die Gesellschaft verändern
Man könnte also den Eindruck gewinnen: Das Feuer brennt einigermaßen. Bleibt nur eine Frage offen. Was braucht’s, dass aus einigen Demonstrationen wirklich eine Bewegung wird, der die Politik Gehör schenken muss? Zutat Nummer Eins: Betroffenheit in der Bevölkerung. Die Aktivisten von Hainburg zum Beispiel identifizierten sich mit der bedrohten Natur und setzten sich für sie ein. Eine weitere Zutat: Der Wunsch nach einer aussichtreichen Zukunft. Werden wir unseren Kindern eine freie demokratische Gesellschaft in einer lebenswerten Umwelt hinterlassen oder bricht hinter uns die Sintflut herein? Eine Frage, die heute anscheinend wieder viele Bürger von ihren bequemen Sofas aufstehen lässt. Damit aus diesem Unmut schlussendlich wirklich eine Bewegung entsteht, ist noch eine dritte Zutat entscheidend. Die Überzeugung muss von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen geteilt werden. Nur wenn sich Frauen und Männer, Alte und Junge, Arbeiter, Bürger und Studierte gleichermaßen empören, sind die Entscheider zum Handeln gezwungen.
Auch international schläft die Zivilbevölkerung nicht
Dass dieses Rezept auch international greift, bewiesen etwa die Klimaaufmärsche der letzten Jahre. Als am 21. September 2014 Hunderttausende in 150 Ländern für den Klimaschutz auf die Straße gingen, war das die bis dahin größte Demonstration dieser Art weltweit. Ein Jahr später folgten weitere „Global Climate Marches“ – in Summe gab es 2014 und 2015 mehr als 1,5 Millionen Teilnehmer. Folgenloser Aktivismus? Im Gegenteil: Der Weckruf wurde gehört. Christiana Figueres, Vorsitzende der UN-Klimakonferenz von Paris, empfand ihn als Rückendeckung: „Als wir die riesigen Demos sahen, wussten wir, dass wir die Menschen auf unserer Seite haben.“ Das wiederum gab den Teilnehmern an der Konferenz zusätzliche Motivation, aktiv zu werden. Im Dezember 2015 konnte das Pariser Klimaabkommen von allen Staaten der Erde unterzeichnet werden.
Internet-Plattformen mobilisieren die Massen
Die globalen Klimamärsche sind ein Musterbeispiel dafür, dass die Übernahme von zivilgesellschaftlicher Verantwortung Wirkung zeigt. Im Vergleich zu den Aufmärschen in der Hainburger Au der 1980er-Jahre fällt jedoch ein Unterschied auf. Mit den technischen Chancen des Webs hat die junge Generation bei der Mobilisierung von Gleichgesinnten einen deutlichen Vorteil. Bei den Klimamärschen wurde zum Beispiel die nötige Plattform von der weltweiten Bürgerbewegung Avaaz bereitgestellt.
Avaaz – die Welt auf einer Plattform
Mehr als 46 Millionen Mitglieder – so viele Unterstützer hat aktuell Avaaz. Wobei jeder als Mitglied gezählt wird, der schon einmal eine Petition unterzeichnet hat. Im Jahr 2007 gegründet, mobilisiert die Bürgerbewegung Menschen in aller Welt. Ziel ist, sich gegen ökologische, politische und humanitäre Missstände einzusetzen, die sonst nicht genügend Breitenwirkung finden würden. Die Organisation arbeitet mit einem kleinen Kernteam auf allen Kontinenten sowie tausenden Freiwilligen und ist in 17 Sprachen aktiv.
Millionen Menschen in aller Welt fühlen sich für die drängenden Probleme unserer Zeit mitverantwortlich. Im digitalen Zeitalter kann mit Vernetzung ein ungeheurer Schneeballeffekt erzeugt werden. Menschen, die einander nicht kennen und an unterschiedlichen Orten leben, lassen sich für gemeinsame Aktionen gewinnen. Avaaz nutzt dieses Potenzial: Indem die Bewegung jährlich die Schwerpunkte in einer Mitgliederumfrage festlegt. Zudem verschickt sie Ideen für Kampagnen wöchentlich an 10.000 stichprobenartig ausgewählte Mitglieder. Jene Themen, die ausreichend Resonanz erzielen, werden weiterverfolgt. Insgesamt wurden bereits über 2.800 Kampagnen lanciert. Auch in Österreich ist die Bürgerbewegung aktiv.
#aufstehn – Webaktionen in ganz Österreich
Von der Lichterkette gegen Rechtsextremismus über einen offenen Brief gegen Frauenfeindlichkeit bis zur Initiative gegen Plastikverschwendung: #aufstehn ist eine österreichische Gemeinschaft, die sich gemeinsam für ein positives Miteinander sowie soziale, wirtschaftliche und ökologische Fairness einsetzt. Das Herz bildet eine Community mit über 50.000 Engagierten, die bei Online-Aktionen mitmachen, an öffentlichen Protesten teilnehmen oder ihre gemeinsamen Interessen bei Kundgebungen vertreten.
Anpacken macht einfach mehr Spaß
Aktuell scheint in Österreich ohnehin wieder Rückenwind für Proteste der Zivilbevölkerung einzusetzen. Ihre Wirkung wird die Zukunft zeigen. Fakt ist: Wir leben in Umständen, die es uns ermöglichen, anzupacken, Dinge zu verändern – sei es für die Umwelt oder eine gerechtere Gesellschaft. Die Bevölkerung kann, oder sollen wir sagen, muss dort Verantwortung beweisen, wo die Politik versagt. Und schlussendlich sollte sich ein jeder selbst die Frage stellen: Macht es nicht viel mehr Spaß, die eigene Lebensumwelt zu gestalten, als sie zu ertragen?