Unsere freie Gesellschaft ist in Gefahr. Diese Ansicht vertritt Philipp Blom leidenschaftlich in seinem Essay „Was auf dem Spiel steht“. Welche Qualitäten muss unsere Gesellschaft entwickeln, um zukunftsfähig zu bleiben? Kann dem Klimawandel Einhalt geboten werden? Und gibt es Beispiele aus der Geschichte, von denen wir lernen können? Der Historiker und Bestsellerautor im Interview.
Herr Blom, Ihr Buch ist eine Warnung: In Zeiten von Klimawandel und Digitalisierung steht alles auf dem Spiel, so Ihre Theorie. Befinden wir uns an einem einzigartigen Wendepunkt der Geschichte?
Philipp Blom: Ja, denn es geht nun um Fehler, die der Mensch nur einmal machen kann. Das war im 16. oder 18. Jahrhundert nicht so. Ein entscheidender Faktor ist der rasante technische Wandel. So ist etwa ihr iPhone bereits 120 Millionen Mal schneller, als die NASA-Computer bei der Mondlandung 1969. Diesem Tempo kommt unser sozialer Fortschritt des Nachdenkens und Verstehens nicht nach. Wir werden zu Opfern unserer eigenen Kreaturen – also quasi das Zauberlehrlingsproblem.
„Was auf dem Spiel steht“
In seinem 2017 erschienen Werk beleuchtet der Historiker und Bestsellerautor Philipp Blom die gegenwärtigen Umbrüche von Digitalisierung bis Klimawandel. Das Mittel für eine mögliche Lösung? Ein illusionsloser, historisch informierter Blick auf die Gegenwart und die Überzeugung, dass allen Menschen ein freies Leben zusteht.
Beim Zauberlehrling von Goethe übernehmen ja die selbst geschaffenen Werke die Arbeit des Schöpfers. Eine Analogie, die auch auf unsere Gesellschaft zutrifft?
Blom: Durchaus, denn die Digitalisierung frisst unsere Arbeit – das erleben wir heute schon. Es ist möglich, dass in 20 Jahren die Hälfte der Bevölkerung keinen Brotverdienst mehr hat. Und wenn wir Menschen kein bedingungsloses Grundeinkommen bezahlen, sondern Arbeitslosenunterstützung, dann sagen wir implizit: Wir brauchen euch, weil ihr Zeug kauft, aber sonst seid ihr einfach überzählig. Das ist nicht nur psychologisch grausam, sondern auch der Anfang vom Ende von Demokratie.
Sie glauben also, dass unsere Demokratien nicht zukunftsfähig sind?
Blom: Wir träumen gerade diesen seltsamen Traum der Menschrechte. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass freie Demokratie kein Naturzustand ist. Und in einer Gesellschaft, in der immer weniger Menschen produktive Arbeit verrichten, geht die Machtschere auf. Die Gefahr für autoritäre Systeme steigt. Demgegenüber kann ich mir auch ein zweites Zukunftsszenario vorstellen: Eine Gesellschaft, in der Menschen frei über ihre Zeit und ihre Talente entscheiden, in der sozialer Wert nicht über Erwerbsarbeit definiert ist oder Konsum den Alltag regiert. Dazu ist jedoch ein radikales Umdenken notwendig.
„Es sind in der Geschichte bereits viele Dinge passiert, von denen wir dachten, dass sie unmöglich sind.“ Philipp Blom, Historiker und Autor
Ein Umdenken ist es auch, was unsere Umwelt bitter nötig hätte. Haben Sie noch Hoffnung, dass der Klimawandel gestoppt werden kann?
Blom: Ich besuche laufend Festivals, wo die Leute sehr wohl über den Klimawandel Bescheid wissen. Aber wir dürfen uns nicht täuschen, das ist ein kleiner Teil von etwa fünf Prozent der Menschen. Da wir in Demokratien leben, müssen zumindest 50 Prozent von dieser kritischen Situation überzeugt sein. Was mir wirklich Hoffnung gibt: Es sind in der Geschichte bereits viele Dinge passiert, von denen wir dachten, dass sie unmöglich sind. Etwa die weitgehende Abschaffung der Sklaverei. Das heißt: Die Umstände können sich ändern.
Aktuell orten Sie in ihrem Buch eher eine Zukunftsverweigerung in Europa. Wollen wir diese kritischen Entwicklungen einfach nicht wahrhaben?
Blom: In Europa halten wir verzweifelt an unserer Gegenwart fest. Unsere Politiker sagen, uns gehe es bestens und wir glauben gerne daran. Verständlicherweise, denn mit Klimawandel, krachenden Sozialsystemen und Terrorismus steht uns nichts Gutes ins Haus. Fakt ist aber, dass das wachstums- und konsumorientiere Geschäftsmodell unserer Gesellschaft nicht zukunftsfähig ist. Wie eine Lösung aussehen muss, kann ich als Einzelperson nicht sagen. Sie muss aus der Gesellschaft kommen.
„Diese riesigen Bedrohungen sind nicht Teil einer Science-Fiction-Story. Unsere Wahl besteht nur darin, ob wir sie erleiden oder gestalten wollen.“ Philipp Blom, Historiker und Autor
Die Lösung liegt also noch im Dunkeln. Haben Sie als Historiker ein Beispiel aus der Geschichte parat, an dem wir uns orientieren können?
Blom: Der Baumeister des Stephansdoms wusste – wie auch Baumeistergenerationen nach ihm –, dass der Bau zu seinen Lebzeiten nie fertig wird. Er hatte jedoch eine Aufgabe, von der er leben und bei der er seine Talente einbringen konnte. Große Projekte wie dieses gibt es heute nicht mehr. Ich denke aber, dass die gemeinsame Arbeit an einer Zukunft weg von der Wachstumsökonomie eine solche Kathedrale sein kann. Wichtig ist, dass wir eins begreifen: Diese riesigen Bedrohungen sind nicht Teil einer Science-Fiction-Story. Wir werden sie erleben. Unsere Wahl besteht nur darin, ob wir sie erleiden oder gestalten wollen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dr. Philipp Blom wurde 1970 in Hamburg geboren. Er ist Schriftsteller, Historiker, Journalist und Übersetzer. Sein 2009 auf Deutsch veröffentlichtes Buch „Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914“ wurde mehrfach ausgezeichnet. Seit 2006 lebt Blom in Wien, er moderiert die Sendung „Von Tag zu Tag“ im österreichischen Kultursender Ö1.