Was steckt hinter dem Trend?
Achtsamkeit ist schnell erklärt: Es geht darum, ganz im Moment präsent zu sein. Das klingt leichter, als es ist. Schließlich sind wir nur ca. die Hälfte unserer Zeit wirklich bei der Sache. Was uns nachweislich unglücklicher macht, als wären wir stattdessen ‚präsent‘.
Denn in präsenten Momenten nehmen wir unsere Gefühle und unseren Körper stärker wahr. Die hohe Kunst der Achtsamkeit besteht darin, sich aber gleichzeitig auch bewusst von den eigenen Gedanken und Gefühle zu distanzieren.
Achtsamkeit hat noch eine wichtige Grundregel: Vorschnelle Urteile abgewöhnen, wie etwas sofort in die Schubladen gut oder schlecht, attraktiv oder hässlich, langweilig oder spannend zu stecken. Eine achtsame Haltung schützt einen vor voreiligen Schlüssen und hilft dabei, stattdessen reflektierter zu reagieren.
Sich selbst feinsinnig zu beobachten hat noch einen positiven Nebeneffekt: Wir spüren wieder viel deutlicher, was wir wirklich brauchen. Zum Beispiel Bewegung, Berührung oder bestimmte Zutaten im Essen. Oder vielleicht mehr Kontakt zu anderen Menschen. Wir lernen wieder besser, echte Bedürfnisse von vergänglichen Wünschen oder von der Illusion ‚käuflicher Zufriedenheit‘ abzugrenzen, die durch Vergleiche mit anderen, durch Werbung oder andere Tricks der Konsumwelt entsteht.
Nicht zuletzt geht es in der Achtsamkeitsbewegung aber darum, Mitgefühl und Verbundenheit mit anderen Menschen und der Natur zu kultivieren, weshalb mehr Achtsamkeit Hand in Hand mit mehr Nachhaltigkeit geht.
Was bringt Achtsamkeit?
Wo Achtsamkeit auftaucht, sind auch kritische Stimmen nicht weit. Fragen wie, „bringt das wirklich was?“, oder „wirkt hier nicht maximal ein Placebo-Effekt?“, hört man immer wieder. Wir können mit gutem Gewissen und wissenschaftlichem Rückenwind antworten: definitiv wirkt das.
Etliche positive psychische und physische Effekte von Achtsamkeitspraktiken sind wissenschaftlich erwiesen. Zum Beispiel, dass Achtsamkeit mehr Ruhe, Entspannung, Energie, Lebensfreude und Selbstvertrauen bringt. Und uns dadurch gegen Stress, Depressionen, Angst, chronische Schmerzen, Suchtverhalten und Immunschwächen besser wappnet.
Durch MRT- Aufnahmen konnte nachgewiesen werden, dass Achtsamkeit uns dabei hilft, uns in reizüberfluteten Umgebungen wesentlich besser zu fokussieren. Das ist darauf zurückzuführen ist, dass sich die Struktur unseres Gehirns im Bereich des anterioren cingulären Cortex durch Achtsamkeitspraktiken verändert. Menschen, die beispielsweise regelmäßig meditieren, haben nachweislich einen dickeren Cortex als Menschen, die nicht meditieren.
Die Wirkungen von Achtsamkeits-Praktiken reichen über die individuelle Ebene hinaus, sie verbessern unsere Hilfsbereitschaft und Kommunikationsfähigkeit. Obendrein stärken sie nicht nur unser Mitgefühl mit anderen Menschen, sondern auch mit unserem Planeten. Was in der heutigen Zeit absolut essentiell ist.
Achtsam im Gefängnis
Spielarten der Achtsamkeits-Praxis ziehen sich mittlerweile quer durch alle Gesellschaftsbereiche: von Sport, über Bildung bis hinein ins hektische Karussell der Wirtschaft und Politik. Sogar in Gefängnissen werden mittlerweile Kurse in Achtsamkeit angeboten. Positive Effekte, wie weniger Feindseligkeit, ein besseres Selbstwertgefühl oder weniger Stimmungsschwankungen konnten (häufiger) bei Frauen und Männern in Gefängnissen in einer amerikanischen Studie beobachtet werden.
In der Wissenschaft gibt es aber auch Stimmen, die dazu ermahnen, den Blick auf mögliche unerwartete „Nebenwirkungen“ nicht ganz zu verschließen und immer wieder auch zu prüfen, ob Achtsamkeit beispielsweise unsere Urteilskraft, Merkfähigkeit oder andere Bereiche beeinträchtigt.
Muss man dafür spirituell sein?
Der Ursprung der Achtsamkeits-Praktiken liegt im Zen-Buddhismus, von wo sie sich im 20. Jhd. zunehmend auch in westliche Länder verbreiteten.
In der westlichen Welt gilt Jon Kabat Zinn als Achtsamkeits-Pionier. Der renommierte Neurobiologe und Begründer der westlichen Achtsamkeitsbewegung trennt Achtsamkeit und Spiritualität „sauber“, da er nie zum „Guru“ werden wollte. Im Gegenteil, sein Anliegen war es, die Meditation aus dem spirituellen und religiösen Rahmen zu lösen – Meditieren ohne Ideologien.
Das von ihm 1982 entwickelte Achtsamkeits-Programm (Mindfulness-based-stress-reduction /MBSR) hat sich zu einer Art „Bestseller“-Programm in der Szene entwickelt. Acht Wochen mit täglichen Achtsamkeits-Übungen (Atemübungen, Meditationen, Körperwahrnehmungs-Übungen, Yoga etc.) sollen zu mehr Präsenz im Moment, Gesundheit und Lebensfreude verhelfen. Was nachweislich auch Menschen hilft, die unter chronischen Schmerzen, Depressionen, Sucht oder Essstörungen leiden.
Wie fängst du an? Und wie bleibst du dran?
Wissenschaftlich ist die Sache also wasserdicht. Bleibt lediglich der innere Schweinehund. Wie schaffst du es a) deine ganz persönliche, stimmige Achtsamkeits-Praxis zu finden und b) dranzubleiben? Auch dazu gibt es im Netz unzählige Tipps, Routinen und Tricks. Von simplen Kreuzen in analogen (!) Kalendern bis hin zu ausgeklügelten Achtsamkeits-Apps mit klingenden Namen wie Buddhify. Wenn du ihn suchst, findest du ihn also: den Weg in eine achtsame Haltung.
Die 15 besten Mindfullness Apps 2022 – LINK
Achtsamkeit zu acht. Ein Gruppen-Selbstversuch – LINK
Gespräch mit der deutsche Achtsamkeits-Forscherin Britta Hölzel – LINK
Quellen
- Bishop, S. R., Lau, M., et al. (2004). Mindfulness: a proposed operational definition. Clinical psychology: Science and practice, 11(3), 230. LINK
- Condon, P., Desbordes, G., Miller, W. B., & DeSteno, D. (2013). Meditation increases compassionate responses to suffering. Psychological Science, 24, 2125–2127. LINK
- Kabat-Zinn, J. (2021). The Liberative Potential of Mindfulness. Mindfulness, 12(6), 1555-1563. LINK
- Killingsworth, M. A., & Gilbert, D. T. (2010). A Wandering Mind Is an Unhappy Mind. Science, 330(6006), 932-932. https://doi.org/10.1126/science.1192439 LINK
- Loy L.S. und Reese G. (2019). Hype and hope? Mind-body practice predicts pro-environmental engagement through global identity. Journal of Environmental Psychology (2019) 66: 1-10. LINK
- Samuelson M, Carmody J, Kabat-Zinn J, Bratt MA. (2007). Mindfulness-Based Stress Reduction in Massachusetts Correctional Facilities. The Prison Journal; 87(2):254-268. LINK
- Schindler, S. Ein achtsamer Blick auf den Achtsamkeits-Hype. Organisationsberat Superv. Coach 27, 111–124 (2020). LINK
- Tang, YY., Hölzel, B. & Posner, M. (2015). The neuroscience of mindfulness meditation. Nat Rev Neurosci 16, 213–225. LINK