Faktencheck: was bringt uns Vorstellungskraft?

Wie sie entsteht und was sie uns bringt

Vorstellungskraft ist schwer greifbar. Und doch hat sie ihre Finger fast überall mit im Spiel. Wir brauchen sie zur Orientierung im Alltag, egal ob wir Musik hören, gutes Essen genießen, Sport betreiben oder uns unterhalten. Wir brauchen sie aber auch, um darauf zu kommen, welche Zukunft wir uns wünschen.

Was ist überhaupt Vorstellungskraft?

Unsere Vorstellungskraft (oder Fantasiekraft) hilft uns Neues zu verstehen und einzuordnen. Sie setzt sich aus dem bildlichen und räumlichen Vorstellungsvermögen zusammen.

Im Gehirn wird sie jener Region zugeordnet, die wie ein Seepferdchen aussieht: dem Hippocampus im limbischen Kortex. Dieses anatomische ‚Headquarter‘ unserer Vorstellungskraft ist die Schnittstelle zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis. Im Gegensatz zu vielen anderen Hirnregionen werden hier auch lebenslang neue Nervenzellen gebildet. Die Ausprägung des Hippocampus erlaubt daher Rückschlüsse auf den „Trainingszustand“ unserer Vorstellungskraft [1].

So tun, als ob…

Wir machen uns im Alltag so einiges vor. Unser Vorstellungsvermögen füllt unterbewusst Lücken, die uns sonst ständig irritieren würden. Es vervollständigt unvollständige Informationen, egal ob visuell, akustisch oder haptisch („perzeptuelles Ergänzen“ oder „Filling in“ Effekt). [2]

So können wir bekannte Musikstücke ‚vollständig‘ hören, auch wenn einzelne Töne fehlen. In einer Studie glaubten einige Versuchspersonen das bekannte Weihnachtslied „White Christmas“ auch dann noch deutlich hören zu können, wenn der Lautstärkenregler fast auf Null gedreht wurde oder das Lied gar nicht mehr abgespielt wurde. [2]

Unser Vorstellungsvermögen synchronisiert aber auch den Bruchteil von Lücke, der in alltäglichen Gesprächen dadurch entsteht, dass Licht schneller als Schall ist. Wir sehen die Mundbewegungen unseres Gegenübers einen Bruchteil früher, als wir die Worte zu hören bekommen [3]. Unser Vorstellungsvermögen balanciert auch diese Ungereimtheit für uns aus.


Manchmal ist unser Vorstellungsvermögen sogar überzeugender, als die Realität. Das zeigt ein Versuch zum „blinden Fleck“, den jeder Mensch im Auge hat. Wir nehmen ihn nicht wahr, da unser Vorstellungsvermögen die fehlende Information netterweise unbewusst ergänzt. In einer Studie der Universität Osnabrück, stellte sich verblüffender Weise heraus, dass diese „ergänzte“ Information auf die Mehrheit der Versuchspersonen „echter“ als die wirklich vollständige Information wirkt. [4]

Kunst und Musik sind Schmiermittel

Die Hirnforschung liefert die bildlichen Beweise zu den Veränderungen, die beispielsweise die intensive Auseinandersetzung mit Kunst und Musik in unserem Gehirn sichtbar bewirken.

Studien zeigen nicht nur, dass die Hirnregion, in der unser Vorstellungsvermögen verankert ist, zum Beispiel durch Kunst stark angeregt wird. Sie machen auch sichtbar, dass der Effekt noch stärker ist, wenn man selbst den Pinsel schwingt, und nicht ‚nur‘ die Kunst von anderen auf sich wirken lässt. [5]

Wir können unsere Vorstellungskraft von vielen kreativen Tätigkeiten animieren lassen, wie Theaterspielen, Musizieren, Tanz, der Kunst des Geschichtenerzählens etc. All diese kreativen Tätigkeiten führen zu einer erhöhten Aktivität im „Headquarter“ unserer Vorstellungskraft.

Langjähriges, musikalisches Training führt außerdem dazu, dass Musiker*innen nicht nur beide Hände besser koordinieren und besser analytisch hören, ihre Gehirne sind auch „plastischer“ im Denken. [2]

Gut vorgestellt ist fast gehört

Der renommierte Neurobiologe Oliver Sacks staunte schon als Kind darüber, dass sein Vater, der über ein außergewöhnliches Gehör verfügte, ganze Partituren lebensecht in seinem Inneren erklingen lassen konnte, ohne auch nur einen echten Ton zu hören.

Mittlerweile konnten neurobiologische Studien belegen, dass unser auditorischer Kortex fast ebenso stark aktiviert wird, wenn wir uns Musik intensiv vorstellen, wie wenn wir sie wirklich hören. Die Stücke des taub gewordenen Komponisten Ludwig van Beethoven sind wohl der beste Beweis dafür.

In Sacks Buch „Der einarmige Pianist“ sind zig hochinteressante, teilweise nahezu unglaubliche und skurrile Beobachtungen rund um das Thema Musik und Gehirn beschrieben, die er als Neurobiologe bei Patient*innen machen konnte.

Vorstellungs-Kniff mit Mozart

Wer manchmal tollpatschig an analytischen Aufgaben scheitert, die ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen erfordern, dem sei folgender Trick empfohlen: Man höre sich vorher eine Mozart-Sonate an und mache sich sofort danach an die Aufgabe. Es wird einem leichter fallen. Einzige Einschränkung: der Effekt verpufft relativ schnell wieder. Bei normalen Menschen nach ca. 4 Minuten, bei Musik-Profis nach ca. 11 Minuten [6].

Und wenn man einfach kein Vorstellungsvermögen hat?

Ja, auch das kommt vor. Rund 2% der Menschen sind von einem rätselhaften Phänomen namens Afantasie (dem Fehlen bildlicher Vorstellungskraft) betroffen, merken es oft aber gar nicht. Dieses Phänomen wurde erstaunlicherweise erst 2010 vom britischen Neurologen Adam Zemann wissenschaftlich entdeckt und beschrieben [7].

Was in der Folge eine Menge Staub in der neurologischen Fachwelt aufwirbelte. Menschen, die von Afantasie betroffen sind, haben beispielsweise große Probleme damit vor ihrem inneren Auge zu rekonstruieren, wie viele Fenster sich in ihrem Haus oder Elternhaus befinden.

Wie können wir unsere Vorstellungskraft aufblühen lassen?

Wir können einiges tun, um unserem Vorstellungsvermögen immer wieder auf die Sprünge zu helfen. Stille, Leerlauf und Muße sind wichtige Zutaten, um den Nährboden für mehr Vorstellungskraft aufzubereiten. Und ja, auch Langeweile schadet diesbezüglich nicht im Geringsten. Sie gilt als äußerst fruchtbarer Boden für Kreativität. [8]

Und dann gäbe es noch diverse erprobte „Düngemittel“, wie die oben erwähnte intensive Auseinandersetzung mit Musik oder Kunst. Kulturmuffel können – zumindest ihr räumliches Vorstellungsvermögen – auch motorisch fördern, zum Beispiel durch komplexe Bewegungsabläufe, wie das Jonglieren [9].

Seit Jahren boomt außerdem ‚mentales Training‘ bei Leistungssportler*innen. Mentales Training, wenn es entsprechend intensiv und ernsthaft betrieben wird – aktiviert Muskeln ähnlich stark, wie ein echtes Training [10].

Rob Hopkins, Autor des Buches „Stell Dir vor“, schwört – wie viele andere – auf die magische Wirkung von Zeit in der Natur, um das Vorstellungsvermögen aufblühen zu lassen [11]. Besonders eindrücklich hat er diese Wirkung am eigenen Leib erlebt, nachdem er an einem Vogelkonzert am sog. Dawn Chorus Day teilnahm. Er hatte das Gefühl, dieses Konzert habe seiner Kreativität noch Wochen später Flügel verliehen.


Quellen:

[1] Rob Hopkins (2021): Stell Dir vor… Löwenzahn Verlag.

[2] Oliver Sacks (2008): Der einarmige Pianist – über Musik und Gehirn, Rowohlt Verlag. (Textauszug online)

[3] https://www.psychologie-aktuell.com/news/aktuelle-news-psychologie/news-lesen/subjektiver-wahrnehmung-wird-mehr-vertraut-als-der-wirklichkeit-verblueffendes-forschungsergebnis.html

[4] https://www.psychologie-heute.de/leben/artikel-detailansicht/40850-es-gibt-kein-langweiliges-leben-nur-einen-mangel-an-vorstellungskraft.html

[5] Bolwerk, A., Mack-Andrick, J., Lang, F. R., Dörfler, A., & Maihöfner, C. (2014). How Art Changes Your Brain: Differential Effects of Visual Art Production and Cognitive Art Evaluation on Functional Brain Connectivity. PLOS, 9(7).

[6] Georg Gittler (2006): Kann Musikhören das räumliche Vorstellungsvermögen steigern? Zum zeitlichen Verlauf des „Mozart-Effekts“.

[7] https://www.spektrum.de/news/afantasie-wenn-die-bildliche-vorstellungskraft-fehlt/1519733

[8] https://gesundheitsberatung.com/psychologie/news-storys/warum-langeweile-kreativ-macht/

[9] https://www.fr.de/sport/sport-mix/jonglieren-foerdert-raeumliches-vorstellungsvermoegen-11529592.html

[10] https://www.dasgehirn.info/handeln/motorik/vom-sofa-aus-trainieren

[11] https://www.nationalgeographic.de/umwelt/2017/03/naturverbundenheit-foerdert-kreativitaet-und-gesundheit


Weiterlesen & Weiterschauen

Oliver Sacks (2009): Der einarmige Pianist – über Musik und das Gehirn. Rowohlt Verlag.

Neil Gaiman (2022): Kunst ist wichtig: Weil deine Vorstellungskraft die Welt verändern kann, Eichborn Verlag.

Rob Hopkins (2021): Stell Dir vor… Löwenzahn Verlag.

Gerald Hüther (2016): Etwas mehr Hirn, bitte. Eine Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen Denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten. WiR Verlag.

Robert Zatorre (2018): TED Talk “How music changes our brain