Der neuerdings viel diskutierte Begriff Anthropozän ist das Kürzel für die Einsicht, dass der Mensch tiefgreifend und im globalen Maßstab das Lebenssystem des Planeten verändert. Industrialisierung, Verkehr, Konsum und Abfall der Menschheit verändern das Gesamtgefüge des Planeten mit der gleichen Wirkmacht wie globale geologische Kräfte in der Erdgeschichte, etwa Cyanobakterien, Meteoriteneinschläge oder Vulkanausbrüche. Daher haben Geologen vorgeschlagen, die erdgeschichtliche Gegenwart nicht mehr Holozän, sondern Anthropozän zu nennen. Dieser ökologische Umbruch ist vielfältig und von globalem Ausmaß: er reicht von der Klimaerwärmung und der Veränderung der ozeanischen und atmosphärischen Strömungssysteme über die Störung der Wasserzyklen, dem Verbrauch nicht-erneuerbarer und der Übernutzung erneuerbarer Ressourcen, und den rasanten Verlust der Artenvielfalt, Veränderung von Witterungen und Landschaften, bis zur Akkumulation von nicht-abbaubarem Abfall und Überbevölkerung.
Warum bleibt man nicht einfach beim guten alten Begriff der Nachhaltigkeit?
Aus zwei Gründen: Nachhaltigkeit impliziert, dass man „immer so weiter machen kann“. Nachhaltiges Wirtschaften heißt, seine Ressourcen immer wieder zu regenerieren, um diese auch in zwei oder drei Generationen noch zur Verfügung zu haben. Aber langfristig einfach weiterzumachen, so die Diagnose des Anthropozäns, ist heute keine Option mehr. Außerdem hat sich klassische Umweltpolitik im Dienste der Nachhaltigkeit oft auf lokale Maßnahmen beschränkt. Die ökologischen Probleme der Gegenwart aber sind keine lokalen, sondern globaler Natur. Etwas wie eine ‚unberührte Natur’ gibt es in Zeiten des Klimawandels nicht mehr. Die Rede vom Anthropozän zielt allerdings nicht so sehr auf eine Verabschiedung der traditionellen Umwelt-Agenden, sondern auf deren Radikalisierung. Im Bewusstsein, dass hier und jetzt existentielle ökologische Schwellen überschritten sind, ist nicht Dauerhaftigkeit sondern ein radikaler Wandel das Gebot der Stunde.
Worin könnte dieser Wandel bestehen und was wären seine Grundlagen?
Im Begriff Anthropozän geht es um nicht weniger als eine andere Art des in-der-Welt-Seins. Das bedeutet, den Menschen neu zu fassen, nämlich als ein Wesen, das mit anderen nicht-menschlichen Lebensformen zusammenleben muss, ohne diese zu verdinglichen oder zu beschädigen. Es heißt, das Soziale als etwas zu begreifen, das sich nicht ausschließlich auf den Menschen beschränkt (sondern auch auf Tiere, Pflanzen, Landschaften, die Atmospäre, etc.). Es bedeutet aber auch andere Formen des menschlichen Zusammenlebens. Einige frühe Kritiker des Begriffs haben sich daran gestört, dass hier eine einzige Menschheit als Ganzes zum Namensgeber würde. Die lebendige und sehr produktive Debatte um das Anthropozän hat aber längst gezeigt, dass mit dem Begriff die Unterschiede zwischen reich und arm, zwischen High-tech- und Low-tech-Lebensformen, zwischen großen und kleinen ökologischen Fußabdrücken durchaus nicht zum Verschwinden gebracht werden. Vielmehr fragt das Anthropozän gerade nach den globalen ökologischen Kosten des Reichtums der Industrieländer und den Bedingungen einer globalen Umwelt-Gerechtigkeit.
Leben im Anthropozän heißt nicht zuletzt auch die Suche nach solchen Lebens- und Gesellschaftsformen, die eine Alternative zum vorherrschenden neoliberalen Marktgeschehen darstellen. Das können subsistente Lebensformen in der Landwirtschaft sein, aber auch neue Formen des gemeinschaftlichen Wirtschaftens und der nicht-monetarisierbaren Kooperation wie Nachbarschaftsnetzwerke und Bürgerinitiativen.
Mit dem Bewusstsein, im Anthropozän zu leben ergeht die Aufforderung, die Grundlagen des menschlichen Lebens auf diesem Planeten neu zu denken. Welches Verhältnis zur Natur brauchen wir, eines, das Natur nicht mehr nur als „Ressource“ oder „Ware“ in den Blick nimmt?
Welche Ethik brauchen wir, wenn nicht nur Menschen, sondern auch andere Lebewesen und Naturdinge Rechte haben sollten? Was wären Regeln der Fairness zwischen reichen und armen Gesellschaften? Was hieße es, globale Gemeingüter wie die Luft, die Meere, Landschaften und Küsten auf globaler Ebene zu schützen?
Dass Menschen zu einer global wirksamen geologischen Macht geworden sind, ist kein Aufruf zur Verzweiflung. Vielmehr ist es das Gebot, eine nie dagewesene Verantwortung zu übernehmen, kollektiv und individuell.
Über die Autorin
Eva Horn ist seit 2009 Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien. Sie hat an Universitäten in Deutschland, der Schweiz, den USA und Frankreich geforscht und gelehrt, zuletzt als Distinguished Max Kade Visiting Professor an der Columbia University, New York. Ihre Studie “Zukunft als Katastrophe” zu Katastrophen- und Präventionsphantasien der Moderne erschien 2014 im Fischer Verlag. Ihre Forschungsgebiete sind Katastrophenfiktionen seit dem 18. Jhd. und der Zusammenhang zwischen Literatur, politischer Theorie und Wissen. Derzeit arbeitet sie an einer Einführung in das Konzept des Anthropozäns und an einer Kulturgeschichte des Klimas.