Robustheit der Wirtschaft überlebenswichtig

Männliche Hände halten Stück Erdboden

Das Corona-Virus und seine drastischen Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft haben der Globalisierungseuphorie einen Dämpfer versetzt. Begriffe wie Versorgungssicherheit gewinnen wieder an Bedeutung. Denn in Krisensituationen merkt man, dass eine gewisse Robustheit der Wirtschaft überlebenswichtig sein kann. Dabei geht es um die Versorgung mit Lebensmitteln und den Erhalt einer Landwirtschaft, die ein lokales Angebot an Grundnahrungsmitteln aufrechterhalten kann. Doch es braucht auch medizinische Grundstoffe, die plötzlich knapp zu werden drohen. Es ist wichtig, dass grundlegende Dinge wie Nahrungsmittelversorgung, Gesundheitsversorgung oder Energieversorgung auch in Krisensituationen weiterhin funktionieren. Je globalisierter aber Wertschöpfungsketten organisiert sind, umso größer wird das Risiko eines Ausfalls. Nur wenn wir neben der globalisierten Wirtschaft auch funktionierende lokale Wirtschaftsbereiche erhalten, ist die Wirtschaft resilient und kann auch in Krisen weiterbestehen.

Allerdings kommt die lokale Nahrungsmittelproduktion zunehmend unter Druck. Die multilateralen Freihandelsverhandlungen innerhalb der WTO sind ins Stocken geraten, und deshalb bemühen sich Staaten und auch die EU, immer mehr bilaterale Freihandelsverträge mit einzelnen Ländern oder Wirtschaftszonen abzuschliessen. Und die Landwirtschaft mit ihrem für sie überlebenswichtigen Grenzschutz gerät dadurch zunehmend unter Druck. Nur wegen ein paar Bauern will man doch nicht auf die Erschliessung neuer Exportmöglichkeiten verzichten.

Dabei wird völlig, verkannt, was verstärkte Marktorientierung für die Bauern in Ländern wie Deutschland, Österreich oder die Schweiz tatsächlich heisst: ihren Beruf sofort an den Nagel hängen und sich nach einer neuen Tätigkeit umsehen! Das wird klar, wenn wir die Wertschöpfung pro Vollzeitbeschäftigten pro Jahr in der Landwirtschaft anschauen und mit anderen Brachen vergleichen. In der Schweiz beträgt diese Wertschöpfung bei Bauern rund 30‘000 Schweizer Franken. In Branchen wie der Pharmaindustrie oder bei Finanzdienstleistungen liegt diese Zahl bei mehr als dem Zehnfachen, also bei über 300‘000 Schweizer Franken. Die Landwirtschaft hat von allen Branchen die weitaus geringste Wertschöpfung!

Rein ökonomisch gedacht sollten wir uns auf die Produktion von Gütern und Dienstleistungen spezialisieren, wo wir eine hohe Wertschöpfung erzielen. Mit den Exporterlösen aus diesen Produkten importieren wir dann zu niedrigen Preisen Lebensmittel aus Ländern, welche diese billig produzieren können. Und der Rest der Exporterlöse steht uns dann für weiteren Konsum zur Verfügung. Genau das ist die ökonomische Argumentation zugunsten von Freihandel. Man spezialisiert sich auf die Produktion von Gütern, wo man einen komparativen Vorteil hat (z.B. Pharmaprodukte) und verzichtet auf die Produktion von Gütern, wo man einen komparativen Nachteil hat (Agrarprodukte).

Agrargüter nicht nur rein wirtschaftlich betrachten

Doch Bauern sind nicht nur Anbieter bestimmter Güter, die man billiger im Ausland kaufen könnte. Sie erfüllen mit der Nahrungsmittelproduktion Funktionen, die längerfristig erhebliche Bedeutung besitzen. Sie garantieren die Versorgungssicherheit mit gesunder Nahrung, deren Bedeutung in Krisensituationen wie der jetzigen Corona-Krise wieder ersichtlich wird. Auch sorgen Bauern für die Erhaltung von Kulturlandschaften und Biodiversität und produzieren Lebensmittel unter Bedingungen, die wir über die Landwirtschaftspolitik selbst bestimmen können. Dieser zusätzliche Nutzen der landwirtschaftlichen Tätigkeit wird aber bei einer rein wirtschaftlichen Betrachtung ausgeblendet. Der Verzicht auf eine eigene landwirtschaftliche Produktion und deren Verlagerung ins Ausland verursacht demzufolge Nutzeneinbußen beziehungsweise Kosten, welche über den Verlust der Eigenversorgung mit Lebensmitteln weit hinausgehen. Der Beitrag der Bauern zur Lebensqualität und der Nachhaltigkeit eines Landes wird deshalb systematisch unterschätzt. Natürlich gibt es auch in der Landwirtschaft noch viel Verbesserungspotential. Aber jedes glaubhafte Konzept von Nachhaltigkeit beruht letztlich auf einer möglichst lokalen Versorgung mit Nahrungsmitteln.


März 2020 erschienen: MEHR WOHLSTAND DURCH WENIGER AGRARFREIHANDEL

Cover eines BuchesDer Wirtschaftswissenschaftler Mathias Binswanger räumt mit einem der Mythen der Handelslehre auf – dass nämlich Freihandel immer den Wohlstand vergrößert. Tatsächlich schafft Freihandel bei landwirtschaftlichen Produkten viele Verlierer und nur wenige Gewinner. Verlierer sind viele Bauern sowohl in den Industrie- als auch in den Entwicklungsländern, während sich einige Großbauern und ein paar internationale Konzerne zu den Gewinnern zählen dürfen. In den ärmsten Entwicklungsländern machen die Kleinbauern die Mehrheit der Bevölkerung aus. Deshalb sind diese Länder oft am stärksten von den negativen Folgen des Agrarfreihandels betroffen, obwohl sie gemäß Theorie am meisten profitieren sollten.

Die politischen Schlussfolgerungen liegen für Binswanger auf der Hand: Zölle und Handelsbeschränkungen für landwirtschaftliche Produkte sind grundsätzlich gerechtfertigt und sinnvoll. Sie leisten einen Beitrag zu Lebensqualität und Wohlstand.


Porträt eines Mannes mittleren Alters mit kurzen Haaren in AnzugÜber den Autor Prof. Dr. Binswanger

Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Er war zusätzlich Gastprofessor an der Technischen Universität Freiberg in Deutschland, an der Qingdao Technological University und der Lanzhou University in China und an der Banking University in Saigon (Vietnam). Mathias Binswanger ist Autor von zahlreichen Büchern und Artikeln in Fachzeitschriften und in der Presse. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Makroökonomie, Finanzmarkttheorie, Umweltökonomie sowie in der Erforschung des Zusammenhangs zwischen Glück und Einkommen. Mathias Binswanger ist auch Autor des 2006 erschienenen Buches Die Tretmühlen des Glücks, welches in der Schweiz zum Bestseller wurde. Weitere bekannte Bücher sind: Sinnlose Wettbewerbe – Warum wir immer mehr Unsinn produzieren (2010), Geld aus dem Nichts – Wie Banken Wachstum ermöglichen und Krisen verursachen (2015), und ganz neu: Der Wachstumszwang – Warum die Volkswirtschaft immer weiterwachsen muss, selbst wenn wir genug haben (2019). Gemäss dem Ökonomen-Ranking der NZZ im Jahr 2019 gehört Mathias Binswanger zu den fünf einflussreichsten Ökonomen in der Schweiz.

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