Eltern mit Kindern im schulpflichtigen Alter sollten sich solidarisieren und beginnen ihre eigene Schule zu gründen, appelliert Nachhaltigkeits-Pionier Werner Lampert im Gespräch mit Bildungskritiker Andreas Salcher. Salcher zeigt sich überzeugt davon, dass der Schlüssel zu einer erfolgreichen Bildungsreform bei der Lehrerausbildung und verbesserten Sozialkompetenz liegt.
Was müssten Bildungseinrichtungen und Schulen tun, um Kinder und Jugendliche für mehr Verantwortungsbewusstsein und mehr Nachhaltigkeit zu begeistern?
Werner Lampert: Ich bemühe mich seit vielen Jahren um das Thema Nachhaltigkeit. Irgendwann ist mir bewusst geworden, dass wir keinen Schritt weiter kommen werden, wenn wir nicht beginnen uns zu bemühen die Themen Werte und Sozialkompetenz als Grundlage unseres Zusammenlebens zu betrachten. Wir müssen uns Fragen stellen: Wie wollen wir als Gesellschaft miteinander umgehen? Stichwort: Solidarität.
Ich möchte keinen Satz mehr über Nachhaltigkeit hören, solange wir gleichzeitig die Welt zugrunde richten, die jungen Leute aushungern, ihr Bildungssystem zerstören und ihnen einen Haufen ungelöster Probleme hinterlassen. Für mich ist der Bildungsaspekt in diesem Zusammenhang das Allerwichtigste.
Wenn wir nicht zu einer radikal solidarischen Gesellschaft werden, können wir auch nichts bewegen. Jeder der Verantwortung im Herzen trägt muss etwas dazu beitragen.
Andreas Salcher: Eines der Hauptprobleme im Bildungsbereich ist die fehlende Sozialkompetenz. Nicht nur in der Schule sondern im Grunde in der gesamten Gesellschaft. Schule an sich ist eines der sozial inkompetentesten Systeme. 80 Prozent aller Probleme, die es zwischen Lehrern untereinander oder zwischen Schülern und Lehrern gibt, begründen sich auf mangelnder Sozialkompetenz. Eben weil Sozialkompetenz in diesem System nie erlernt wurde. Soziale Konflikte zu lösen ist zwar nicht einfach, aber erlernbar.
Die Pisa-Studie analysiert kognitives Verständnis, also sprachliches, mathematisches und logisches Denken. Was mir aber viel wichtiger erscheint und hier könnte Österreich eine Vorreiterrolle einnehmen: wir müssten die emotionale und soziale Kompetenz systematisch und empirisch erfassen. Für diese Prozesse gibt es bereits genügend Instrumente.
Viele Jugendliche haben großen Zweifel, ob sie in Zukunft auf das von Krisen und hoher Arbeitslosigkeit geschüttelte Wirtschaftssystem noch zählen können. Wo sollte das Bildungssystem ansetzen um Neugier und positive Perspektiven zu erzeugen?
Lampert: Ich war früher viel in Schulen unterwegs. Dort habe ich Kinder aus unterschiedlichsten Schichten getroffen. Da war schnell großes Interesse da, Kinder haben den Wunsch etwas zu tun. Neugier ist bei ihnen erweckbar.
Zum Beispiel: Jeder Bauer weiß heute genau, wie er das Beste aus seinen Tieren und Böden herausholen und somit die Leistung steigern kann. Doch wie Qualität produziert wird, wie Qualität in Lebensmittel hineinkommen, darüber hat der Bauer keine Vorstellung. Das gleiche passiert auch in der Schule. Da herrscht das Motto: wir müssen die jungen Menschen so ausbilden, damit sie gut in die Wirtschaft passen und im Konkurrenzkampf bestehen können. Fragen wie, was für die Wirtschaft wichtig ist und was wir entwickeln müssen, bleiben ausgeklammert. Es herrscht Konkurrenzdenken und die Einstellung sich das Recht zu nehmen.
Diese Werte haben uns in die jetzige Misere geführt. Wenn wir nach Portugal und Spanien blicken, wo bis zu 65 Prozent Jugendarbeitslosigkeit herrscht, lässt sich sagen: den Reichen geht es wunderbar, die Anderen werden abgestoßen. Die Schulen und das System werden mit solchen Werten zu Grunde gehen.
Solidarität und Empathie sind keine Schlagworte sondern müssen gelebt werden. Diese sozialen Fähigkeiten müssen genau gleich bewertet werden wie die kognitiven. Erst dann können wir eine Vorstellung aufbauen, wohin sich unsere Gesellschaft entwickeln soll. Dafür müssen wir alles tun.
Warum ist das Bildungssystem in Österreich nun so festgefahren?
Salcher: Schule ist im Gegensatz zur Wirtschaft und Kultur ein völlig isolierter Bereich und von jeher ein Monopolbetrieb, ohne Konkurrenz, ohne Wettbewerb. Und Monopole führen immer zu hohen Kosten, schlechtem Service und zu mangelnder Innovation. Über Generationen hat man sich gewissermaßen daran gewöhnt. Obwohl Schule sich heute hierzulande ein bisschen liberaler gibt, hat sich im Grunde nichts geändert.
Der Grund: es herrscht eine unheimliche Angst in diesem obrigkeitshörigen, machtbesetzten System. Der Lehrer hat Angst vor den Obrigkeiten, obwohl er unkündbar ist. Die Eltern haben Angst um ihre Schule. Jeder hat Angst vor dem anderen. Aber das Leiden, der Schmerz ist anscheinend noch nicht groß genug, damit die Menschen auf die Straße gehen und sich dagegen wehren.
Lampert: Es ist ein falscher Ansatz zu sagen, der Leidensdruck der Schüler ist noch nicht groß genug, damit sie revolutionieren und etwas verändern wollen. Was mich immer wieder verblüfft ist wie neugierig Kinder in ihrem Wesen sind. Kinder finden großen Spaß daran etwas zu lernen, es beflügelt sie etwas Neues kennenzulernen. Sie brauchen keinen Druck, sie brauchen andere Modelle, die zeigen, wie Herausforderungen anders zu lösen wären.
Wir machen ja Wettbewerbe in Schulen mit Schülern aus unterschiedlichen sozialen Milieus, eines ist aber allen Kindern gemein: das Interesse, die Motivation und die Begeisterung.
Was sollten die ersten konkreten Schritte sein in Richtung eines modernen und nachhaltigen Schul- und Bildungssystems?
Salcher: Ein Bildungssystem kann nicht besser sein als die Summe seiner Lehrer. Schlüsselfaktor ist deshalb: wer wird Lehrer in diesem Land und wie werden diese aus- und weitergebildet?
Der nächste Schritt im Mikrokosmos Schule und Bildung sollte ein wertschätzendes Verhalten sein das Lehrer, Schüler und Eltern zusammenbringt. Dazu genüge nicht ein Elternsprechtag sondern dazu bedarf es extern moderierter Begegnungsräume, wo Lehrer und Eltern ihre Ängste und Erwartungen offen artikulieren können. Und: es sollten klare Bildungsstandards festgelegt und die störenden Lehrpläne abgeschafft werden.
Mit den derzeit bestehenden Lehrdienstrecht und Lehrerbesoldungssystem kann keine Reform durchgeführt werden. Gesetze macht die Politik – und die Politik reagiert nur auf den Druck der Gesellschaft. Und der Lehrergewerkschaft ist es gelungen in den vergangenen 20 Jahren jede Reform zu blockieren. Was im Grunde genommen absurd ist, weil es einen breiten Konsens quer durch alle politische Lager und Interessensgemeinschaften gibt. In den wesentlichen Fragen sind sich alle einig.
Überall wo große Bildungsreformen stattgefunden haben, wurden sie gegen die großen Lehrergewerkschaften ausgefochten. Wir alle sind deshalb gefordert. Wenn der Druck aus der Gesellschaft, wenn das Leiden der Eltern und auch der Wirtschaft immer größer wird, dann wird sich etwas ändern.
Lampert: Eltern mit Kindern im schulpflichtigen Alter sollten sich solidarisieren und beginnen ihre eigene Schule zu gründen. Die Eltern sollten das Schicksal ihrer Kinder selbst in die Hand nehmen. Die Zivilgesellschaft ist herausgefordert und muss in ihrer Verantwortung für ihre Kinder selbst handeln. Wir haben heute sehr offene, sehr motivierbare junge Menschen, die ihre Informationen aus vielen Kanälen beziehen. Mit diesem Wissen wird die heranwachsende Generation Großes bewegen – da bin ich mir ganz sicher.
Andreas Salcher ist renommierter Unternehmensberater, Bildungskritiker und Buchautor. Salcher ist Mitbegründer der „Sir Karl Popper Schule“ und Autor von Buch-Bestsellern wie „Der talentierte Schüler und seine Feinde“ und „Nie mehr Schule/Immer mehr Freude“. Salcher gilt als unermüdlicher Kämpfer für die „lebendige Schule“.
Blog Andreas Salcher: http://www.andreassalcher.com/blog/
Werner Lampert (geboren 1946 in Vorarlberg/Österreich) zählt zu den Wegbereitern im Bereich nachhaltiger Produkte und deren Entwicklung in Europa. Der Biopionier beschäftigt sich seit den 1970er-Jahren intensiv mit biologischem Anbau. Mit Zurück zum Ursprung (Hofer) und Ja! Natürlich entwickelte er zwei der erfolgreichsten Bio-Marken im deutschen Sprachraum.