Wie ich esse, so lebe ich

Junge Menschen an einem Tisch stoßen mit Getränken an
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Ernährungssouveränität ist das Recht der Bevölkerung, ihre Ernährung und Landwirtschaft selbst zu bestimmen. Doch nach welchen Kriterien wählen wir unsere Ernährung eigentlich aus? Wer oder was prägt unsere Entscheidungen? An diesen und anderen Fragen forscht die Zürcher Professorin Dr. Christine Brombach und beschäftigt sich seit mittlerweile über 25 Jahren mit dem Thema Essen und Ernährung.

Werner Lampert sagt, jede allein verzehrte Mahlzeit ist eine verlorene Mahlzeit. Wie sehr ist Essen eine gesellschaftliche Handlung?

Essen ist in hohem Maße eine gesellschaftliche, zutiefst soziale Handlung. Es beginnt schon vorgeburtlich in der Gebärmutter und wird zum aktiven, sozialen Miteinander nach der Geburt. Diese intime Zweisamkeit, in der Regel durch die Mutter, schafft einen Erfahrungsraum, Bezugsraum für das Kind. Hier ist das „Ernährtwerden“ ein ganzheitlicher Akt: das Kind spürt die Wärme der Mutter, nimmt nicht nur orale Reize auf, sondern nimmt mit allen Sinnen die Mutter wahr und erlebt einen „Urgeschmack der Geborgenheit“, der gleichsam Nährboden und Grundlage der sozialen Entwicklung ist. Hier erlernt das Kind, dass Essen mehr oder minder periodisch erfolgt, durch die Wiederkehr der Abläufe verfestigen sich Erfahrungen und Geschmackserlebnisse. Vor allem, lernt es aber, dass Essen unmittelbar mit Personen zu tun hat.

Sobald Kinder bei uns am Tisch sitzen und mitessen können, erlernen sie durch die soziale Gruppe, in die sie hineingeboren wurden, wie mit Essen umgegangen wird. Evolutionär sind wir Omnivore, also Allesesser, was für die Gattung Mensch ein immenser Überlebensvorteil ist. Ein Koala kann nur Eukalyptusblätter verzehren, er kann daher nur dort leben, wo es Eukalyptusblätter gibt. Dafür muss er die Welt nur in „Eukalyptusblätter = essbar“ und „alles andere = nicht essbar“ einteilen. Das ist beim Menschen anders, wir müssen erst erlernen, was essbar ist und was nicht. Und diese Einteilung ist nicht biologisch, sondern großteils sozial bestimmt.

Was in einer jeweiligen sozialen Gruppe als „essbar“,„gesund“,„richtig“ gilt und was nicht, sind soziale Regeln, die der Mensch aus seiner Umgebung erst erlernen muss. In keiner Epoche der Menschheitsgeschichte war Essen „selbstverständlich“. Und jede Gesellschaft hat bestimmte Strukturen und Regeln rund um Mahlzeiten entwickelt, die natürlich sehr unterschiedlich sind. Bei uns spielt sich alles am Tisch ab, in anderen Kulturen wird beispielsweise auf dem Boden, mit den Händen gegessen, was ebenso erlernt werden muss.

Georg Simmel, ein deutscher Soziologe, hat schon in seinem Essay zu Beginn des vorigen Jahrhunderts gesagt, dass es genau diese Mahlzeiten sind, die alle Menschen gemeinsam haben, überspitzt formuliert: Tiere fressen, Menschen haben eine Mahlzeitenstruktur, die sie teilen.

Wie sieht es nun mit den biologisch oder genetisch determinierte Aspekten aus, wie wirken sie sich auf unsere Lebensmittelwahl aus?

Der Mensch ist, wie es Heidegger gesagt hat, „ein in die Welt Geworfener“, also ein Lebewesen, das nur dürftig mit Nahrungsinstinkten ausgestattet ist. Wir werden mit einer Präferenz für Süß geboren, weil die Muttermilch leicht süßlich schmeckt und Kohlenhydrate eine wesentliche Energiequelle sind. Neugeborene haben eine angeborene Ablehnung gegenüber Bitterem, aber wir erlernen, es später zu mögen, weil Geschmack auch etwas ist, was wir durch Vorbilder erlernen. So mögen wir, wenn wir älter werden bitter Schmeckendes wie beispielsweise Kaffee, Bier oder dunkle Schokolade.

Sie sprechen hier die Unterschiede im Essverhalten zwischen Kleinkind und Erwachsenem an. Was nimmt, außer dem Alter noch Einfluss?

Es gibt verschiedene Entwicklungsphasen und übergeordnete Fragen einer Gesellschaft in Bezug auf Essen und Verfügbarkeit der Lebensmittel. Noch bis in die 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts stand für viele Menschen der Mangel im Vordergrund, Nachkriegsknappheiten und Hungererfahrungen waren etwas, was im unmittelbaren Bewusstsein und Erleben der Menschen hier im kriegsbetroffenen Europa stand.

Erst im Zuge der 50er Jahre entstand eine zunehmende Industrialisierung der Lebensmittelproduktion, eine Technisierung und dadurch eine Erweiterung des Angebotes durch erste globale Produkte. Heute kommt noch die Digitalisierung der Nahrungsproduktion hinzu. Das hat immense Auswirkungen auf das gesamte Nahrungssystem. Ganz neue, zuvor noch nie gekannte Fragestellungen und Herausforderungen stellen sich nun für die Individuen wie auch Gesellschaften.

Wir haben heute ein Warenangebot rund um die Uhr, wie es noch keine Epoche in der Menschheitsgeschichte zuvor kannte. Plötzlich müssen wir „wenig“ aus der Fülle auswählen, eine „Nein-Haltung“ gegenüber der stetigen Verfügbarkeit und Verführung des Essens annehmen. Und das obwohl der Mensch immer auf Mangel und nicht auf Überfluss programmiert war.

Welche Veränderung bringt die Digitalisierung?

Essen ist durch die Digitalisierung aus dem unmittelbaren Umfeld einer Person herausgetreten, ist global und damit werden auch meine Wahlmöglichkeiten global, z.B. esse ich europäische Produkte, oder solche, die um die halbe Welt gereist sind. Viele Menschen machen sich zurecht Gedanken über die Konsequenzen dieser Entwicklungen.

Da Essen etwas ist, was ich immer tun muss, mehrfach am Tag, habe ich durch meine Essweise auch eine Entscheidungs- und Einflussmöglichkeit auf das Nahrungssystem. Doch um eine Wahl ausüben zu können, benötige ich auch eine Übersicht über die Konsequenzen meiner Wahl, über mögliche Alternativen. Und hier könnte auch die Digitalisierung helfen, Transparenz zu schaffen. Beispielsweise indem Produkte rückverfolgbar sind, indem es digitale Kennzeichnungen gibt, oder digitale Medien könnten genutzt werden um Hinweise zu geben, wo etwas lokal produziert wurde und wer es wie hergestellt hat.

Viele Menschen haben heutzutage keinen Zustand zu Lebensmitteln und deren Herkunft mehr, was möglicherweise auch der Anstieg an ernährungsmitbedingten Erkrankungen fördert. Wie könnte man eine gesündere Ernährungsversorgung erzielen?

Wissen ist immer eine Voraussetzung für Handeln. Vielfach wurde solches Wissen in den Familien erlernt. Aufgrund vielfältiger gesellschaftlicher Bedingungen und Veränderungen ist das aber heute nicht mehr selbstverständlich. Dort haben meiner Meinung nach Schulen einen ganz wichtigen Auftrag Wissen und Praxis zu vermitteln. Dabei geht es nicht nur ums Kochen, sondern um nachhaltiges Handeln im Umgang mit Lebensmitteln. Und das schließt natürlich die Produktion der Lebensmittel mit ein, ebenso wie die Vermeidung von Verschwendung. Und ich bin überzeugt, dass dadurch ein notwendiges Rüstzeug für Ernährungssouveränität gelegt werden kann.

Aber auch andere Institution sind gefordert, hier für eine gesunde Ernährungsvorsorge und Ernährungsversorgung einzustehen. Beispielsweise durch entsprechende Angebote in der Gemeinschaftsgastronomie. Und überdies ist es auch wichtig, dass staatliche Formen der Gesundheitsförderung einbezogen werden, dass sich beispielsweise Gesetze hinsichtlich von Kennzeichnung und Reformulierungsbestrebungen durchsetzen. Es ist ein riesiges Feld von Handlungsmöglichkeiten und wir stehen erst am Anfang.

Was halten Sie von stets neu aufkommenden Ernährungstrends und Superfoods, sind sie reines Marketing oder tragen sie zur Bewusstseinsbildung bei?

Food Trends sind Entwicklungen, die wir beobachten, weil Essen soziale, kulturelle, ethische, moralische und ideologische Aspekte umfasst und in einer globaler werdenden Gesellschaft zum neuen Verhandlungsfeld wird. Dabei ist zu beobachten, dass die Vorstellung von Essen, noch dazu des „gesunden Essens“, zunehmend in unterschiedlichen Entwicklungslinien verläuft und Produkte auf den Markt kommen, die verschiedene Bedürfnisse von Konsumenten abdecken möchten.

Der Begriff „Superfood“ entstammt aus der Marketingwelt. Fakt ist, dass es Lebensmittel gibt, die deutlich mehr Wirk- und Nährstoffe enthalten als andere Lebensmittel, diese müssen aber nicht aus tropischen, subtropischen Regionen stammen.

Es gibt auch in unseren Gefilden eine Menge:

  • Beeren: Schwarze Johannisbeeren, Heidelbeeren, Holunderbeeren, Preiselbeeren, Aroniabeeren. Diese enthalten u.a. sogenannte Polyphenole- Wirkstoffe, die krebsvorbeugend sind.
  • Gemüse: Hier sind es vor allem Wildkräuter, die wertvolle Inhaltsstoffe haben, z.B. Löwenzahn, Giersch, Brennnessel, aber auch alle Kohlgemüse, rohes Sauerkraut, Tomaten. Die Wirkstoffe sind hauptsächlich sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe, die einerseits krebsvorbeugend sind und auch Entzündungen im Körper entgegenwirken können.
  • Gewürze: Gewürze können entzündungshemmend wirken wie Gelbwurz, Ingwer oder auch blutdrucksenkend wie Knoblauch.
  • Kerne, Nüsse, Samen: Mandeln, Walnüsse, Kürbiskerne, Leinsamen enthalten wertvolle Öle, die wichtig für die allgemeine Gesundheit sind, und Nahrungsfasern, die die Verdauung regulieren.
  • Früchte: Granatapfel, Äpfel, Trauben wirken vielfältig auf Blutzucker und Herzkreislauf.
  • Getreide: Gerste, Hafer helfen Blutfettwerte zu modulieren.

Es gibt eine große heimische Auswahl, was uns ermöglicht auch hier unsere Ernährungssouveränität aufzubauen.

Unsere tägliche Wahl bei Lebensmitteln bestimmt sehr stark das Angebot im Handel und in Folge auch die Art der Landwirtschaft. Glauben Sie, steigt das Bewusstsein für nachhaltige Lebensmittel oder sprechen sich die Menschen zwar in Umfragen dafür aus, handeln aber nicht danach?

Das Angebot im Handel ist riesig und unüberschaubar. Keiner kennt noch die einzelnen Nährstoffe, Produktionsorte, Herstellungsverfahren oder Inhaltsstoffe von den über 60 000 Produkten, die ein durchschnittlicher Lebensmittelhandel führt. Ich denke, heute ist den meisten deutlich, dass es so, wie bisher nicht weitergehen kann. Wir müssen umdenken. Ob wir wollen oder nicht. Wir können, global betrachtet, nicht weiter so leben und essen wie bisher. Die Ernährungsweise hat einen großen Einfluss auf unsere Ökosysteme. Rund ein Drittel des Land-, Wasser-, Ressourcen-Verbrauchs, der Treibhausgase gehen auf die Ernährung zurück. Das umfasst also die gesamte Kette von der Produktion bis zum Verbrauch und Entsorgen. Hier ist es wichtig, entsprechend zu sensibilisieren. Aber es braucht die gemeinsame Aktion, Handel, Wirtschaft und Produzenten müssen sich gemeinsam anstrengen, denn letztlich geht es um die Zukunft unserer Kinder.

Kann man als Individuum etwas tun?

Jeder kann einen eigenen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten, beispielsweise, indem man seinen Fleischkonsum reduziert. Fleisch ist ein wertvolles Lebensmittel und es gehört in unserer Kultur dazu. Fleisch ist für die Landwirtschaft ein wichtiges Produkt. Eine rein vegetarische Schweiz oder vegetarisches Österreich wird es nicht geben, denn Tiere produzieren z.B. Milch auf Flächen wie den Alpen, die sonst nicht landwirtschaftlich genutzt werden könnten. Der Dung von Tieren ist in der Landwirtschaft wichtig, um die Bodenfruchtbarkeit zu erhalten.

Wir essen jedoch zu viel Fleisch und das tut weder unserer Gesundheit noch der Umwelt gut.

Wieso ist übermäßiger Fleischkonsum so dramatisch?

Das Bundesamt für Umwelt der Schweiz untersuchte 2012 die Umweltbelastung des privaten Konsums der Schweizer Bevölkerung. Dabei wurde deutlich, dass 28% der gesamten Umweltbelastung durch die Ernährung verursacht wird. Hier sind es vor allem die tierischen Produkte, die dazu beitragen. Es braucht sehr viel Wasser und Ressourcen, um Futtermittel, z.B. Getreide zu produzieren, Nahrung, die auch Menschen essen könnten. Die WHO hat in vielen Studien aufgezeigt, dass ein hoher Konsum von rotem Fleisch mit einem erhöhten Krebserkrankungsrisiko einhergeht. Häufig werden mit Fleisch zu viel Fett und Pökelsalze aufgenommen. Langzeitstudien zeigen, dass Personen, die wenig (d.h. max. 500 Gramm pro Woche) oder kein Fleisch essen, ein geringeres Risiko haben, an chronischen ernährungsbedingten Erkrankungen zu leiden.

Es bedeutet nun nicht, komplett auf Fleisch zu verzichten, sondern es geht, wie immer im Leben, um das rechte Maß. Es braucht nicht jeden Tag Fleisch, vegetarische Varianten sind abwechslungsreich, einfach zu kochen und sie schmecken.

Welchen Rat haben Sie für Konsumenten um zu mehr Ernährungssouveränität beizutragen?

Wichtig ist es, sich mit dem zu befassen, was täglich in den eigenen Mund wandert, denn es hat immense Auswirkungen. Nicht nur für unseren Körper, sondern auch für das Umfeld, das landwirtschaftliche System, in dem wir leben. Dazu sollten wir uns informieren und die Wahl, die Entscheidungen, die wir treffen, auch ernst nehmen. Denn wie ich esse, so lebe ich, wie ich lebe, so esse ich. Das ist keine neue Erkenntnis. Das war eine Grundhaltung der griechischen Philosophie im Altertum, dort bedeutete der Begriff diaita (den wir heute nur noch verkürzt als „Diät“ kennen) ein Lebensführungsprinzip. Somit war das Essen immer eingebunden in den Alltag, in die praktische Lebensweise. Genussvolles und gesundes Essen sind dabei die Grundpfeiler der Ernährung. Essen und trinken wir also mit Freude!


Über Christine Brombach

Portrait einer freundlich lächelnden dunkelhaarigen Frau Prof. Dr.oec.troph Christine Brombach ist seit 2009 am Institut für Lebensmittel und Getränkeinnovation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Wädenswil, Schweiz als Dozentin tätig. Sie studierte in Giessen (D) und Knoxville, TN, (USA), Ernährungs- und Haushaltswissenschaften. Nach dem Diplom in Giessen erwarb sie sich einen Master of Science in Nutrition mit dem Schwerpunkt Gerontologie in Manhattan, KS, (USA). Sie promovierte an der Universität Giessen zum Thema „Ernährungsverhalten von Frauen über 65 Jahren“. Für vier Jahre leitete sie als Projektkoordinatorin die Nationale Verzehrsstudie II am Max Rubner-Institut in Karlsruhe (D).

Quelle: Gekürzte Fassung eines Interviews mit Christine Brombach am 2.11.2018
Artikel der Redaktion

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